Unzählige Briefe erhielt Astrid Lindgren im Lauf der Jahre von ihren Fans. Und alle wurden sie beantwortet. Anfangs von der Autorin selbst, später, als die Flut von Briefen unüberschaubar wurde, von einer Assistentin. Lena Törnqvist arbeitete intensiv mit den vielen im Nachlass erhaltenen Briefen und entdeckte dabei, dass es zwischen Lindgren und dem Mädchen Sara einen über Jahrzehnte dauernden Briefwechsel gab. Phasenweise in kurzen Abständen, dann wieder mit vielen Jahren dazwischen gab es einen Austausch zwischen den beiden. Als Sara zum ersten Mal schreibt, ist sie zwölf Jahre alt. Sie will – auch angeregt von den Pippi-Verfilmungen – Schauspielerin werden. Der angebeteten Autorin Lindgren schreibt sie einen großschnäuzigen Brief, in dem sie sich über die KinderdarstellerInnen der Lindgrenfilme auslässt. Lindgren antwortet sachlich, aber streng und gibt zu bedenken, ob eine solche Form der Kritik gerechtfertigt ist. Diese erste Antwort ist der einzige Brief, der nicht erhalten ist, weil Sara ihn aus Scham vernichtet hat. Doch sie schreibt wieder und findet eine Freundin und Unterstützerin in Lindgren, die ihrerseits schnell erkennt, dass Sara Probleme hat, die weit über das Maß üblicher Pubertätsschwierigkeiten hinausgehen. Sie wird eine Art heimliche Vertraute, die aus der Perspektive der um 50 Jahre Älteren versucht, manche Dinge zu relativieren, die Mut macht, die Schule weiterzumachen und die klare Worte findet, wenn Sara zum Beispiel berichtet geschlagen worden zu sein. So lernen wir Astrid Lindgren in einer ganz anderen Rolle kennen, nicht nur als Autorin, die sich in fiktiven Geschichten mit schwierigen Kindheitsthemen auseinandersetzt, sondern als eine Art Fern-Sozialarbeiterin, die einen Ton anschlägt, der auch 40 Jahre später noch nicht altbacken klingt.
Astrid Lindgren und Sara Schwardt: Deine Briefe lege ich unter die Matratze. Ein Briefwechsel 1971-2002. Aus dem Schwedischen von Birgitta Kicherer. 237 Seiten, Oetinger, Hamburg 2015 EUR 20,60
erstmals erschienen in WeiberDiwan 02/2015