Anne holt Hanne zurück

Kreischende Hanne Wilhelmsen-Fans stürmen die Buchläden… Nein, im Ernst, für alle treuen Leser*innen der norwegischen Krimiautorin Anne Holt bietet der neueste Fall Gelegenheit, altbekannte Protagonist*innen wieder zu treffen. Holt ist als Autorin nicht zimperlich mit ihren Figuren. Kriminalpsychologin Johanne Vik ereilte nach der Lösung ihres letzten Falles ein plötzlicher Tod; Hanne Wilhelmsen, in acht Bänden seit den 1990er Jahren Kommissarin, wurde nach einigen durchlebten privaten Katastrophen im Dienst angeschossen und verbrachte die darauffolgenden Jahre völlig zurückgezogen auf den Rollstuhl angewiesen. Jetzt wird sie auf zweifache Weise wieder aktiv. Offiziell arbeitet sie an sogenannten „cold cases“, also an ungeklärten Fällen aus der Vergangenheit. Und dann steht eines Tages ihr alter Kollege Billy T. vor der Tür, er braucht Hilfe. Doch noch bevor überhaupt klar wird, ob die beiden wieder einen Weg finden, miteinander umzugehen, detoniert in Oslo eine Bombe und das Chaos bricht los. Alte Traumata nach den Anschlägen von 2011 brechen auf, es gibt Spekulationen und ein islamistisches Bekennervideo. Es gibt Zweifel, Ungereimtheiten und eine Gruppierung, die es schafft, völlig unabhängig von digitalen Medien zu kommunizieren. Intelligent, politisch aufmerksam und wie immer haarscharf an der Realität schafft Holt Hochspannung. Pflichtlektüre für Krimiaffine.

Anne Holt: Ein kalter Fall. Aus dem Norw. von Gabriele Haefs. 432 Seiten, Piper, München-Berlin-Zürich 2017EUR 22,70

erstmals erschienen in WeiberDiwan 01/2017

Kalt

Der Zugang zum von der Kritik viel gelobten Roman „Die weiße Stadt“ von Karolina Ramqvist und zur Protagonistin fällt nicht leicht. Karin lebt isoliert und am Rande der Verwahrlosung alleine mit ihrem Baby in einem großen eingeschneiten Haus mit Blick auf Wald und See. Vieles stimmt hier ganz und gar nicht, doch wie kam das? Schicht um Schicht ent‑ hüllt sich langsam das Bild einer auf den Kopf gestellten Existenz – einst die in Luxus lebende Frau eines Kriminellen, jetzt aus diesen Kreisen verstoßene stillende Witwe. Handlungsunfähig und wie gelähmt ist sie, nicht einmal ihren Körper erkennt sie wieder, völlig vereinnahmt von dem Kind, das sie aussaugt. Doch gerade dieser Zwang hält sie in der physisch wie psychisch schmerz‑ haften Wirklichkeit, bis die Delogierung nicht mehr aufzuschieben ist. Ramqvist versteht es, eine eisige, beklemmende Stimmung zu erzeugen, mit aller Härte das Schicksal zu beschreiben, aus dem die Protagonistin nur selbst ausbrechen kann. Hilfe ist nicht zu erwarten, weder vom Wohlfahrtsstaat noch vom schicken Anwalt aus dem früheren Leben und scheinbar auch nicht von der einstmals besten Freundin. Aber überhaupt aus dem Haus zu gehen, ist schon ein Anfang.

Karolina Ramqvist: Die weiße Stadt. Aus dem Schwed. von Antje Rávic Strubel. 184 Seiten, Ullstein, Berlin 2016EUR 18,50

erstmals erschienen in WeiberDiwan 01/2017

Hoffnung

Reykjavík Ende des 19. Jahrhunderts. Guðfinna arbeitet als Tagelöhnerin, meist als Wäscherin oder Kohlenträgerin, und wohnt zusammen mit mehreren anderen in einer kleinen Hütte. Ihre Herkunftsfamilie wurde nach dem Tod des Vaters auf dem Meer in alle Winde zerschlagen. Eine Zeit lang arbeitete sie als Magd auf dem Land. Doch viele junge Mädchen in einer ähnlichen Lage träumen von der Stadt und einer Anstellung in einem feinen Haushalt. Gemeinsam mit ihrer Freundin Stefanía machte sie sich auf den Weg. Glamourös ist es nicht, das Stadtleben, und die Vorstellung von einer „feinen“ Anstellung wird bald abgelöst von den Erzählungen über sexuellen Missbrauch durch die „feinen“ Herren. Als Tagelöhnerinnen fühlen sie sich vergleichsweise frei, schleppen bei Wind und Schneefall die Schmutzwäsche über gefährliche Felspfade zu den heißen Quellen. Sie machen Bekanntschaft mit Liebe, Freundschaft und Zusammenhalt, aber auch mit Krankheit, Armut und Tod. Was bleibt, ist die Hoffnung auf eine bessere Zukunft und die unglaubliche Kraft, die die Frauenfiguren in diesem Roman ausstrahlen. Poetisch und kraftvoll erzählt. Große Leseempfehlung!

Kristín Steinsdóttir: Hoffnungsland. Aus dem Isländ. von Anika Wolff. 216 Seiten, Verlag C. H. Beck, München 2017EUR 20,60

erstmals erschienen in WeiberDiwan 01/2017

Kinderbuchheld*innen

Der Band „Berühmte Kinderbuchautorinnen“ der Germanistin Luise Berg-Ehlers spannt einen weiten Bogen über das Schaffen von Autorinnen im Bereich der Kinder- und Jugendliteratur der letzten 150 Jahre. Von Clementine Helm bis J.K. Rowling sind 27 Kurzbiografien mit oft unbekannten Details vereint. Else Ury, Christine Nöstlinger, Judith Kerr, Selma Lagerlöf, Enid Blyton, Tove Jansson und viel andere werden vorgestellt und ihr Hauptwerk gewürdigt.

Viele, auch der älteren genannten Bücher stehen heute noch in öffentlichen Bibliotheken und werden gelesen, zumindest aber sind alle, die in den 1970er Jahren und früher geboren wurden, mit Figuren wie Backfisch, Trotzkopf oder Nesthäkchen aufgewachsen. Ein bislang nostalgisches, manchmal kopfschüttelndes Wiedersehen ob der stereotypgetränkten Welten, die einst für Unterhaltung sorgten, gibt es da. Auch nie wahrgenommene Held*innen, wie Daddy Langbein oder Anne auf Green Gables, sind anzutreffen. Ein guter Überblick für Interessierte, ein Anstoß zu Leseerinnerungen und vielleicht ein Anlass, mit den Kindern von heute die Bilder zu betrachten und zu vergleichen, was einst und heute Kinderbuchheld*innen so ausmachte.

Luise Berg-Ehlers: Berühmte Kinderbuchautorinnen und ihre Heldinnen und Helden. 152 Seiten, Elisabeth Sandmann Verlag, München 2017 EUR 25,70

erstmals erschienen in WeiberDiwan 01/2017

Niemals Gewalt!

1978 bekam die Kinderbuchautorin Astrid Lindgren den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels und hielt bei den Feierlichkeiten zu dessen Verleihung eine flammende Rede gegen Gewalt in der Erziehung. Das Verleihungskommittee hatte sich dazu durchgerungen, erstmals eine Autorin auszuzeichnen, die „nur“ Kinderbücher schrieb. Und diese Autorin sprach nun nicht etwa über die Kraft der Fantasie, die man ihren Büchern zuschrieb, sondern über den Mangel an Frieden und das Übermaß an Gewalt in der Welt. Auch wenn sie – vermeintlich bescheiden, denn sie hatte auch sonst keine Hemmungen, den Mächtigen der Welt ihre Meinung mitzuteilen – anmerkte, dass man von ihr als Kinderbuchautorin wohl kaum politische Antworten erwarten könne, nur um dann hochpolitisch die Wurzeln der Gewalt schon in den Erfahrungen der frühen Kindheit zu verorten. Zusammen mit einem Vorwort der deutschen Journalistin und Rassismuskritikerin Dunja Hayali und einem Nachwort der Lindgren-Verlegerin bei Oetinger, Silke Weitendorf, ist aus dem Abdruck der Rede ein kleines Büchlein entstanden, das die immer noch hochaktuelle Botschaft Lindgrens heute neu verbreitet.

Astrid Lindgren: Niemals Gewalt! Aus dem Schwed. von Anna-Liese Kornitzky.  76 Seiten, Oetinger, Hamburg 2017 EUR 5,20

erstmals erschienen in WeiberDiwan 01/2017

Mord in Island

Lesenachschub gibt es aus der isländischen Thrillerszene. Yrsa Sigurðardóttir, die im Hauptberuf als Ingenieurin Kraftwerksprojekte leitet, hat mit „DNA“ den ersten Band einer geplanten Reihe vorgelegt, die sich um das Ermittlungsduo von Kinderpsychologin Freyja und Kriminalkommissar Huldar drehen. Nach einem bestialischen Mord – mit einem Staubsauger, nach Jahrzehnten an Krimiboom wird es zunehmend schwieriger in dieser Hinsicht originell zu sein – bei dem ein Kind Zeugin wurde, treffen die beiden bei der Befragung zusammen. Und wie das auf Island so ist, kennt jede quasi jeden, in diesem Fall von einem One-Night-Stand, bei dem beide nicht ganz die Wahrheit von sich erzählt haben. Neben den Ermittlungen in einer sich zur Mordserie auswachsenden Kette von Ereignissen, die in der Vergangenheit ihren Ursprung haben, gibt es also auch genug privaten Zündstoff, der in den folgenden Bänden wohl seine Fortsetzung finden wird. Solide Krimihandlung, sympathische Charaktere, so geht Islandkrimi.

Yrsa Sigurðardóttir: DNA. Aus dem Isländ. von Anika Wolff. 480 Seiten, btb, München 2016EUR 20,60

erstmals erschienen in WeiberDiwan 01/2017

Aufbruch

nors_rechts_blinkenAufgewachsen am letzten Ende der dänischen Provinz lebt Sonja nun schon seit dem Studium und somit über zwanzig Jahren in Kopenhagen. Sie ist erfolgreiche Übersetzerin eines schwedischen Bestseller-Krimiautors, was heißt, sie lebt bescheiden. Sonja lebt alleine und einsam. Der Kontakt zu ihrer Schwester ist so gut wie inexistent. Die Verbindung zu den Eltern erkaltet. In einem Versuch aus diesem Stadium auszubrechen, will sie endlich den Führerschein machen, doch sie fühlt sich mehr als unbegabt, was sich kaum dadurch ändern lässt, dass ihre großschnäuzige, aggressive Fahrlehrerin immer für sie schaltet, während sie ununterbrochen auf sie einredet – über alles, nur nicht übers Autofahren. Die Kraft, die es braucht, um gegen all das anzukämpfen, aus diesem ohnmächtigen Befinden auszubrechen, macht Dorthe Nors in ihrem Roman ganz real spürbar. Sonja schleppt sich durchs Leben, aber kleine Schritte – wie der Wechsel der Fahrlehrerin – setzen eine Entwicklung in Gang. Trotz der lähmenden Thematik wird der Inhalt des Buches nie depressiv und auch der Lesefluss nicht gehemmt. Für Sonja geht das Leben vorwärts und die Leserin bleibt in positiver Stimmung zurück.

Dorthe Nors: Rechts blinken, links abbiegen. Aus dem Dän. von Franz Zuber. 192 Seiten, Kein & Aber, Zürich – Berlin 2016 EUR 20,60

erstmals erschienen in WeiberDiwan 02/2016

In der Fremde

thor_maedchen_weit_wegEine alte Frau, die Graue, wohnt in einer Hütte mitten im Wald. Allein, und das mag sie. Doch eines Nachts im Winter steht ein kleines Mädchen vor der Tür, ganz rot angezogen, und bittet um Einlass. Sie darf hereinkommen, doch nur kurz, denn die Graue ist lieber allein. Schließlich darf das Mädchen doch auf einer Matratze übernachten, aber am anderen Morgen muss es weiterziehen. Mit unbekanntem Ziel, denn sie kommt von weit her, wo sie niemanden mehr hat. Die Graue bleibt zurück, doch nun ist nichts mehr wie vorher, schließlich macht sie sich auf die Suche nach dem Mädchen.

Mit Kindern über das Thema Flucht zu reden ist nicht so einfach. In diesem Buch wird dazu auch nichts erklärt, aber gezeigt, wie es sich anfühlen kann, allein zu sein, in der Kälte, um Hilfe zu bitten, kurz vielleicht Aufnahme zu finden, aber immer noch allein zu sein. Die Welt der Grauen ist zwar adrett, Farbe bekommt sie – und das zeigen die Illustrationen voll Wärme – erst durch das kleine rote Mädchen. Voll Gefühl.

Annika Thor: Das Mädchen von weit weg. Illustriert von Maria Jönsson. Aus dem Schwed. von Kerstin Behnken. 32 Seiten, Oetinger, Hamburg 2016 EUR 13,40

erstmals erschienen in WeiberDiwan 02/2016

Im Fluss

forstenson_sprache_und_regen1Mit „Sprache und Regen“ brachte der Hanser Verlag im Frühjahr 2016 einen Lyrikband der Schwedin Katarina Frostenson heraus. Dabei handelt es sich um eine Sammlung von Gedichten, die im Original zwischen 1999 und 2011 in vier unterschiedlichen Gedichtbänden erschienen. Frostenson wurde 1953 in Stockholm geboren, verfasste neben Lyrik auch Dramen und Prosa und arbeitet als Übersetzerin aus dem Französischen. Als Mitglied der Schwedischen Akademie ist sie sowohl als Frau als auch als Lyrikerin die Ausnahme von der Regel. In den 1980er Jahren, als Frostenson in Schweden zu einer der bedeutendsten Lyrikerinnen avancierte, wurde ihr Werk als wichtiger Repräsentant einer neuen weiblichen Poesie verstanden, die sich weigert sich an bestehende Formen anzupassen, ins innerste der Sprache vordringt und eine metaphorische Lyrik hervorbringt. Inzwischen hat sich ihr Stil weiterentwickelt und die Rezeption geändert, in der Geschlecht keine dominante Kategorie mehr ist. Ihr Sprachspiel und ihre Virtuosität – sie gilt als eine der am schwersten zugänglichen LyrikerInnen Schwedens – werden durch Funken von Humor ergänzt, die oftmals nur auf Zeichenebene aufblitzen. Die Gedichte in „Sprache und Regen“ entführen an die unterschiedlichsten Orte im Äußeren und Inneren. Regen, Flüsse, die Welt ist im Fluss. Poesie, auf die eine sich einlassen muss.

frostenson_sprache_und_regen2Besonders erfreulich für mich war eine Veranstaltung der Alten Schmiede gemeinsam mit der Schwedischen Botschaft in Wien im letzten Juni, die sich der Lyrik von Frostenson und Lotta Olsson widmete. Die zweisprachigen Lesungen waren ein Vergnügen und eine Widmung im schönen Lyrikband gab es am Ende auch.

Katarina Frostenson: Sprache und Regen. Aus dem Schwed. von Verena Reichel. 96 Seiten, Hanser, München 2016 EUR 16,40

Freundinnen

bjoerk_nicht_mein_typSo ganz greifbar ist die Insel im äußersten Norden Europas ja nicht, und die – umfassende, wunderbare – Literatur Islands macht es dann oft noch mysteriöser.

Doch in diesem Roman von Björg Magnúsdóttir erleben wir ein Stück Alltagskultur, einen Blick ins Leben von vier Freundinnen Mitte zwanzig, die unterschiedlicher nicht sein könnten, geschildert aus vier unterschiedlichen Perspektiven. Verbindendes Element ist, dass sie gemeinsam zur Schule gingen. Sie unterstützen sich in alltäglichen wie gröberen Problemen, die meist mit schwierigen Beziehungen oder unmöglichen One-Night-Stands zu tun haben. Anstrengend ist ihr Leben zwischen Arbeit, Dates und Besäufnissen in Nachtklubs. Amüsant und unappetitlich zugleich sind die sehr lebhaften Schilderungen von unmöglichen Typen, die in fremde Betten pinkeln, Schwiegervätern, die Studentinnen begrapschen oder Handgemengen mit Türstehern. Die Freundinnen diskutieren auch viel und heftig miteinander und sind manchmal völlig konträrer Meinung, grade auch wenn es um Feminismus geht. Der Vergleich mit „Sex and the City“ im Klappentext ist nicht nachvollziehbar, der zu „Girls“ trifft es schon eher. Jedenfalls begegnen wir einer sehr sympathischen, lustigen und ausgeflippten Clique. Nur Vorsicht beim Lesen in öffentlichen Verkehrsmitteln, nicht alle finden laut lachende Bücherleserinnen gut.

Björg Magnúsdóttir: Nicht ganz mein Typ. Aus dem Isländ. von Tina Flecken. 324 Seiten, Insel Verlag, Berlin 2016 EUR 13,40

erstmals erschienen in WeiberDiwan 02/2016