Hänsel und Gretel

helle_wenndumagstAlle, die schon mal in Dänemark waren, fragen sich wahrscheinlich, ob man sich in dänischen Wäldern tatsächlich verirren kann. Man kann, zumindest im Roman. Die bekannte Autorin Helle Helle schickt in ihrem neuesten Buch Roar und eine namenlose Frau jeweils für sich joggend in den Wald. Es ist Oktober und düster, bald wird es dunkel. Beide finden den Weg nach Hause nicht mehr, doch sie treffen einander und verbringen eine abenteuerliche Nacht im Wald. Dort ist es unheimlich und doch auch wieder nicht. Verlaufen haben sich beide auch in ihren Leben, wie wir in Rückblenden erfahren. Es kommt ein neuer Morgen und nach langem Suchen und vielen Magenkrämpfen finden sie zumindest einen Außenposten der Zivilisation, eine Art Hexenhaus im Wald, es gibt zu essen, aber Hexe lässt sich keine blicken und so auch keine reale Gefahr, die sie überwinden könnten, um befreit zu werden. Also gibt es auch keinen Weg nach Hause. Die Geschichte endet im Ungewissen.

Helle Helle: Wenn du magst. Aus dem Dän. von Flora Fink. 192 Seiten, Dörlemann, Zürich 2016 EUR 20,60

erstmals erschienen in WeiberDiwan 02/2016

Terror in Schweden

ljungber_dunkelheit1940, Nordschweden. Ein Terroranschlag auf eine kommunistische Zeitungsredaktion erschüttert die Stadt Luleå. Im Herbst 1939 greift Russland Finnland an, das sich im darauf folgenden sog. Winterkrieg überraschend lange gegen den übermächtigen Gegner behaupten kann. Im Nachbarland Schweden versucht die Regierung mit allen Mitteln den neutralen Status aufrecht zu erhalten. Im Süden droht Deutschland, im Osten Russland, und aus Westen über Norwegen versucht Großbritannien ins schwedische Norrland vorzudringen, denn dort gibt es enorme Eisenerzreserven. Die Neutralitätspolitik gefällt nicht allen. Vor allem der Kommunismus wird als Bedrohung gesehen. In Luleå bildet sich eine Gruppe um einen rechts-konservativen Journalisten und den zuständigen Staatsanwalt, die in der kommunistischen Zeitung Norrskensflamman (dt. Nordlichtflamme) eine so große Bedrohung sehen, dass sie einen Sprengstoffanschlag auf die Druckerpressen der Zeitung planen und ausführen. Dabei sterben fünf BewohnerInnen des Hauses, das völlig zerstört wird. Ann-Marie Ljungberg hat sich diesen Stoff durch gründliche Recherchen angeeignet und versucht in Form eines Dokumentarromans aufzuzeigen, wie es zu diesem Anschlag kam, wie sich die beteiligten Männer radikalisierten. Auf Grundlage der Aufzeichnungen aus dem Gerichtsverfahren gegen die Täter rekonstruiert die Autorin die Monate vor dem Anschlag und die Gerichtsverhandlung in wechselnden Vor- und Rückblenden. „Lassen Sie uns doch ein Komitee bilden“, ist jener lakonische Satz, der unumkehrbar den Schritt von Unzufriedenheit zu Unrecht markiert. Sehr lesenswert!

Ann-Marie Ljungberg: Dunkelheit, bleib bei mir. Aus dem Schwed. von Eva Scharenberg. 208 Seiten, Weidle, Bonn 2016 EUR 23,20

erstmals erschienen in WeiberDiwan 02/2016

Trauer essen Leben auf

Skomsvold_33Kjersti A. Skomsvold gilt in Norwegen als junges Talent am Buchmarkt, wo sie mit Lyrik und Prosa gleichermaßen reüssiert. In ihrem neuen Roman „33“ spricht die Mathematikerin K. über ihr Leben und ihre Suche nach der Liebe, ihren Kinderwunsch, eine dubiose Krankheit, ihr Festsitzen im Lehrberuf und den Wunsch zu schreiben. Sie liebt den Franzosen Ferdinand, der aber tot ist und dennoch mit ihr spricht. Sie liebt auch den Iren Samuel, der aber weit weg und nicht greifbar ist. Und sie spricht mit einem und über ein Kind, von dem man oft nicht sicher ist, ob es schon geboren wurde. Sie macht sich Gedanken. Wie soll sie es aushalten, auch noch Angst um ein Kind zu haben, wo doch schon die Angst selber zu sterben so groß ist. K. hängt fest, in ihrer Trauer um Ferdinand, in ihrem Job. Sie würde so gerne leben, weiß aber nicht, wie das gehen soll. Doch dann wird sie gesund und schön langsam bewegt sich etwas.

Mal wie ein innerer Monolog gehalten, mal in traumhaften Sequenzen mit surrealistischen Einsprengseln ist der Stil von Skomsvold besonders und verlangt sehr aufmerksames Lesen. Doch es lohnt sich, einzutauchen in dieses intensive Buch.

Kjersti A. Skomsvold: 33. Aus dem Norw. von Ursel Allenstein. 142 Seiten, Hoffmann und Campe, Hamburg 2015     EUR 20,60

erstmals erschienen in WeiberDiwan 01/2016

Vintage Krimi

Lang_LandfriedhofMaria Lang galt in den 1950er Jahren als „Krimikönigin“ Schwedens, ein Titel, den nach ihr noch eine Reihe von Autorinnen von der Kritik verliehen bekommen sollten. Lang war mit 42 zwischen 1949 und 1990 erschienen Kriminalromanen ihre Wegbereiterin. Vor ein paar Jahren wurde sie in Schweden neu entdeckt, ein paar ihrer Bücher verfilmt und nun beginnt die internationale Verbreitung. Im Titel „Tragödie auf einem Landfriedhof“ wird eine klassische Kriminalgeschichte im Stile von Miss Marple erzählt, und zwar aus der Perspektive einer jungen Literaturwissenschaftlerin, ihres Zeichens Rolemodel eines neuen Frauenbildes, intellektuell, gebildet, berufstätig. Und dennoch brave Ehefrau, apart gekleidet, die Nase über den Vamp in der Nachbarschaft und die unverhohlenen Blicke der Männer rümpfend. Eine ganz spannende Zeitreise also. Ach ja, einen Mord gibt es auch. Zu Weihnachten in der Nachbarschaft eines Pfarrhofs. Ganz nett konstruiert, mit versteckten Hinweisen, vielen Gesprächen mit Verdächtigen, Schauplatzskizzen, Zeittabellen, teilweise etwas klischeehaften Figuren. Aber das Besondere des Buches liegt eindeutig in der zeitgeschichtlichen Milieuschilderung.

 

Maria Lang: Tragödie auf einem Landfriedhof. Aus dem Schwed. von Stefan Pluschkat. 235 Seiten, btb Verlag, München 2015      EUR 17,50

erstmals erschienen in WeiberDiwan 01/2016

Ein Schriftstellerinnenleben

Wassmo_SchrittfürSchrittIn jeder Ausgabe des WeiberDiwan gibt es ein Lieblingsbuch für mich: diesmal ist es „Schritt für Schritt“ der Norwegerin Herbjørg Wassmo. Wie konnte mir diese Autorin nur all die Jahre entgehen! Nicht nur in Norwegen, sondern auch im deutschsprachigen Raum ist sie mit ihrer Trilogie über Tora, ein sog. Deutschenkind, bekannt geworden, in der sie ein nationales Tabu, nämlich den unsäglichen Umgang Norwegens mit Frauen, die während des Zweiten Weltkriegs Beziehungen zu Deutschen eingingen, und den daraus hervorgegangen Kindern literarisch aufarbeitet.

In „Schritt für Schritt“ wird es in der Schilderung des Lebenswegs und Werdens einer Autorin vor dem Hintergrund der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, sehr persönlich. Eine bekommt Gänsehaut bei dieser direkten und ehrlichen Art, in der die heute 73-jährige Autorin Privates, das wie hier eindrücklich in Erinnerung gerufen wird ungeheuer politisch ist, erzählt. Themen wie Kindesmissbrauch, Teenager-Schwangerschaft, Bedingungen einer Ehe, die Beziehung zu einem Alkoholiker, politisches Engagement trotz anderer Erwartungen der Gesellschaft an eine Mutter und ein unbändiger Wille zum Schreiben werden angesprochen, wobei eine solch trockene Aufzählung dem Erzählten in keinster Weise gerecht werden kann. Denn es sind der innere Drang der Hauptfigur, der eigene Ton und auch die Kulisse einer oft sehr kargen und harten Natur, die eine nicht mehr loslassen und hineinziehen in diese Roman. Ein mutiges und ermutigendes Buch für einen fixen Platz im Regal der frauenbewegten Literatur.

 

Herbjørg Wassmo: Schritt für Schritt. Aus dem Norw. von Gabriele Haefs. 349 Seiten, Argument Verlag Ariadne, Hamburg 2016    EUR 19,60

erstmals erschienen in WeiberDiwan 01/2016

Finnische Juwelen

Lehtolainen_EchodeinertatenMaria Kallio ist wieder da. Ihre Abteilung bei der Espooer Polizei steht vor der Auflösung, doch ein Fall ist noch zu lösen: der Juwelenhändler Jaakko Pulma wurde in einer Kirche ermordet. Was das Motiv angeht, tappen die ErmittlerInnen lang im Dunkeln. Jede Menge Leute machen sich verdächtig, der konkurrierende Geschäftsmann, die ehemalige Mitarbeiterin, ein psychisch kranker Jugendlicher. Dazu kommt, dass die Frau des Ermordeten eine aufstrebende Parlamentsabgeordnete ist und Zusammenhänge der Tat mit einem Familienunglück in ihrer Vergangenheit nicht ausgeschlossen werden können. Ihr junger, hochmotivierter Assistent wiederum drängt bei jeder Gelegenheit ins Rampenlicht. Kallio muss also vor allem Ordnung ins große Personenregister bringen. Ein weiterer Mord, eine Bombendrohung und ein Showdown auf der Langlaufloipe bringen Spannung. Dennoch ist alles ziemlich Routine, professionell, aber als Kallio-Fan wünscht eine sich, sie möge nun an eine Stelle versetzt werden, wo es wieder neuen Pep gibt.

Leena Lehtolainen: Das Echo deiner Taten. Maria Kallio ermittelt. Aus dem Finn. von Gabriele Schrey-Vasara. 413 Seiten, Kindler, Reinbek b. Hamburg 2016        EUR 10,60

erstmals erschienen in WeiberDiwan 01/2016

Reichlich Stoff zum Erzählen

axelsson_vortragDie schwedische Autorin Majgull Axelsson war am 13. Jänner 2016 zu Gast am Institut für Skandinavistik der Universität Wien und sprach über das Schreiben an sich, ihre Biografie und einige ihrer Werke.

Die 1947 geborene Autorin arbeitete 20 Jahre lang als Journalistin, „ganz durchschnittlich“, wie sie selbst fand, bis sie beschloss, diese „langweilige Art zu schreiben“ hinter sich zu lassen und sich dem Schreiben von Belletristik zu widmen. Über eine journalistische Publikation zum Thema Kinderarbeit wurde sie auf das Thema Kinderprostitution aufmerksam. Bei Recherchen auf den Philippinen lernte sie das Mädchen Rosario kennen, dessen Geschichte auf rein faktischem Niveau nicht darstellbar war. Sein Leben und Sterben waren für Axelsson ein Stoff, der erzählt werden musste.  axelsson_rosarioSo entstand der dokumentarische Roman „Rosario är död“ (dt. „Rosarios Geschichte“). Die Auseinandersetzung mit dem schwierigen Thema, Rosario arbeitet als Kinderprostituierte und stirbt nach einer Verletzung, die ihr ein Freier zufügt, qualvoll, war hart, aber das literarische Schreiben fiel Axelsson leichter. Sie beschloss, Vollzeitautorin zu werden; nicht weil das Buch sich so gut verkaufte, aber weil sie es sich mit Unterstützung durch ihren Mann doch irgendwie leisten konnte. Es entstand der erste rein fiktive Roman „Långt borta från Nifelhjem“ (1994, dt. „Der gleiche Himmel“), in dem eine Frau Anfang 40 nach Hause nach Schweden an das Totenbett ihrer Mutter reist und sich nicht nur mir ihrer Kindheits- und Jugendzeit konfrontiert sieht, sondern auch mit dem, was ihr nicht lang zuvor während eines Vulkanausbruchs auf den Philippinen zugestoßen ist, das sie aber noch verdrängt.

Axelsson sprach in ihrem Vortrag in Wien sehr offen über ihren privaten Hintergrund und wie dieser immer wieder bedeutsam für ihr literarisches Schaffen war. So erzählte sie, wie eine Alzheimererkrankung ihren Vater und ein Gehirntumor ihre Schwester stark veränderten und sie das in ihren Roman axelsson_aprilhexe„Aprilhäxan“ (1997, dt. „Die Aprilhexe“) einfließen ließ. Zentrale Figur des Romans ist Desirée, die in den 1950er Jahren mit einer schweren Behinderung geboren wird und sofort in ein Heim kommt. 40 Jahre später erhalten ihre drei (Pflege-)Schwestern einen Brief von ihr. Desirée versucht herauszufinden, wer von den dreien ihr Leben gestohlen hat. Doch wie der Roman eindrücklich darstellt, gibt es nicht nur darauf keine Antwort, vielmehr sind die Leben der Frauen alle auf eine Art verkorkst, dass man mit keiner tauschen möchte. Neben den Schicksalen der Protagonistinnen wird auch das schwedische Volksheim demontiert.  „Die Aprilhexe“ brachte Axelsson den großen Durchbruch, der Roman wurde zum Bestseller und u.a. mit dem prestigeträchtigen Augustpreis ausgezeichnet.

Nach dem großen Erfolg „kam die große Depression“ und es war schwierig, den Anschluss im Schreiben zu finden. Es dauerte viele Bücher lang, meint Axelsson, bis sie wieder einen Stoff fand, über den noch nicht viel geschrieben worden war und der ihr so richtig nahe ging. Damit spielt sie an ihren neusten Roman „Jag heter inte Miriam“ (2014, dt. „Ich heiße nicht Miriam“) an, der vom Umgang axelsson_miriamSchwedens mit der Minderheit der Roma handelt. Die Hauptfigur Miriam bekommt zu ihrem 85. Geburtstag ein Armband mit ihrem eingravierten Namen geschenkt und kommentiert das überrascht mit: „Ich heiße nicht Miriam“. Ihre Verwandten wissen nicht recht, ob sie richtig gehört haben und der Moment geht vorbei. Doch Miriams Enkelin lässt der Vorfall keine Ruhe und sie fragt nach. Die Geschichte, die sei dann zu hören bekommt, geht über die Grenzen des Vorstellbaren. Miriam, eine Jüdin, die mehrere KZ überlebt hat, wie alle meinen, hat schon im Lager durch Zufall eine andere Identität angenommen. Denn eigentlich heißt sie Malika und ist Roma. Sie überlebt, kommt nach Schweden und muss feststellen, dass sie als Roma auch hier nicht sicher wäre und so bleibt sie Miriam.

Der Roman schildert in vielen Rückblenden Miriams Geschichte und was das in der Gegenwart für die alte Frau bedeutet. So werden auch weitgehend unbekannte geschichtliche Ereignisse benannt, wie z.B. der Widerstand von Roma-Häftlingen in Ausschwitz oder die sog. „Zigeunerkrawalle“ in der schwedischen Kleinstadt Jönköping 1948. Roma wurden in Schweden lange Zeit diskriminiert, durften sich z.B. nirgends niederlassen. Ein Aspekt schwedischer Geschichte, der noch nicht aufgearbeitet ist. Der Roman über Miriam ist fiktiv. Axelsson stieß bei ihren Recherchen vielfach noch auf beängstigtes Schweigen. Einige persönliche Reaktionen nach Veröffentlichung des Buches zeigten ihr jedoch, dass die Fiktion nicht weit von realen Lebensgeschichten weg ist, dass die Betroffenen aber immer noch vorziehen, anonym zu bleiben.

 

Erwähnte Romane:

Majgull Axelsson: Rosario är död. 1989. dt. Ausgabe „Rosarios Geschichte“ 2002.

Majgull Axelsson: Långt borta från Nifelhjem. 1994. dt. Ausgabe „Der gleiche Himmel“ 2004.

Majgull Axelsson: Aprilhäxan. 1997. dt. Ausgabe „Die Aprilhexe“ 2000.

Majgull Axelsson: Jag heter inte Miriam. 2014. dt. Ausgabe „Ich heiße nicht Miriam“ 2015.

 

Vilhelm Moberg aktuell

Moberg2Ich habe heute einen Post auf Instagram zu Vilhelm Mobergs Auswanderer-Tetralogie geschrieben. Der wurde etwas lang, denn so viel gäbe es dazu zu schreiben. Ich habe die ungefähr 2000 Seiten vor zwei Jahren im Urlaub in Småland verschlungen, in der Gegend also, von wo die Gruppe, deren Leben man in den Romanen begleitet, nach Amerika aufbrach. Das Werk ist nicht nur ein großartiges Zeugnis dieser einschneidenden Epoche in Schwedens Geschichte – immerhin verließen zwischen ca. 1850 und 1920 1,5 Millionen Menschen Schweden vor allem Richtung USA – sondern beweist seine Zeitlosigkeit gerade jetzt, wo Immigration in Europa ein so dominantes Thema ist. Viele der Emotionen, die Moberg schildert, sind heute wie damals ähnlich: Ungewissheit, Angst, Heimweh… Bei Menschen, die flüchten mussten, ist die Intensität dieser Gefühle noch stärker und es kommen Traumatisierungen hinzu.

Die schwedische Tageszeitung Dagens Nyheter brachte vor kurzem eine interessante Reportage mit dem Titel Sverigebreven (dt. Die Schwedenbriefe) über die Ähnlichkeiten zwischen den Briefen, die vor 100 Jahren die EmigrantInnen an die in Schweden Zurückgebliebenen schrieben, und den Botschaften, die Flüchtlinge, die heute in Schweden gestrandet sind, in ihre Herkunftsländer schicken, selten als Brief, dafür als E-Mail, SMS oder Videobotschaft.

Die auffälligste Gemeinsamkeit ist das Bestreben, das Erlebte in abgemilderter, ja beschönigender Form darzustellen. Die Motive dahinter sind vielfältig. Einerseits versuchen viele jüngere Leute, die etwa ihre Eltern zurückgelassen haben, ihre Erlebnisse als weniger dramatisch darzustellen, damit sich die Zurückgebliebnen weniger Sorgen machen. Andererseits ist es aber auch so – und das wird in der literarischen Form bei Moberg so gut nachvollziehbar – dass die Menschen sich oft erst selbst damit auseinandersetzen müssen, dass vieles so viel schlechter geht als erwartet. Bei Moberg ist das etwa eine wochenlange Überfahrt auf Segelschiffen, mit Stürmen, Seekrankheit, Ungeziefer, Beengtheit und dem Tod von Mitreisenden. Aber auch nach der Ankunft in der neuen Welt dauert es oft Jahre, bis wieder der Lebensstandard von vor der Emigration erreicht ist. Wenn das überhaupt gelingt. In den Berichten nach Hause klingt das anders. Auch wenn heute eine Flüchtlingsfamilie nach Hause mailt, dass Schweden ganz wunderbar und man in einem Hotel untergebracht sei, obwohl man im Winter in einem Zelt schlafen muss. Was unbedingt aufrecht erhalten werden muss, ist die Hoffnung auf eine bessere Zukunft.

 

Vilhelm Mobergs Romane heißen Utvandrarna (1949), Invandrarna (1952), Nybyggarna (1956) und Sista brevet till Sverige (1959). Auf Deutsch sind sie erschienen unter den Titeln Die Auswanderer, In der neuen Welt, Die Siedler und Der letzte Brief nach Schweden.

Seekrank in München

hallgrimur_collageDer auch im deutschsprachigen Raum bekannte isländische Autor Hallgrímur Helgason hat vor kurzem sein neues Buch „Seekrank in München“, das etwa zeitgleich in Isländisch und Deutsch erschien, auch in Wien vorgestellt, und zwar einmal an der Abteilung für Skandinavistik der Universität Wien und dann in der Buchhandlung Hartlieb. Zu seinen größten literarischen Erfolgen zählen „101 Reykjavík“, das auch verfilmt wurde, oder „Eine Frau für 1000 Grad“, das 2011 anlässlich der Frankfurter Buchmesse, wo Island Gastland war, sogar zuerst auf Deutsch herausgebracht wurde.

Helgason ist nicht nur Autor, sondern auch Maler, Übersetzer, Kabarettist und politischer Aktivist. In den frühen 1980er Jahren zog er für ein Jahr nach München, wo er an der Kunsthochschule studierte und eine für seine künstlerische Entwicklung wichtige Zeit verlebte, die aber dennoch viele negative Erinnerungen hinterließ. Als Helgason 2011 mit gemischten Gefühlen zum ersten Mal wieder nach München kam, entschloss er sich, ein autobiografisches Buch über seinen Münchenaufenthalt als Student zu schreiben. Was für ein Unterschied war es doch, als gefeierter Autor vor ausverkauftem Hause zu lesen und viele positive Rückmeldungen zu bekommen. Jungsein bezeichnet Helgason im Nachhinein als Krankheit. Der Zustand, als junger Künstler noch nicht zu wissen, wer man ist, zeigt sich im Falle der Romanfigur – die nur als „der junge Mann“ oder „Jung“ bezeichnet wird – in einer anhaltenden Übelkeit, die mit regelmäßigem Erbrechen einhergeht und die auf eine geheimnisvolle Krankheit schließen lässt. Wie in einem Kriminalroman legt der Autor so eine Spur durch den gesamten Text. Der junge Mann erbricht eine seltsame schwarze Masse, die sich noch dazu selbst entzündet. Medizinisch ist ihm nicht zu helfen und so steigert sich die Kotzerei endgültig ins Surrealistische, als er beginnt, den Auswurf in einem Bierglas zu sammeln, das er fortan immer unter seinem Mantel versteckt. Und so geht Jung durch seine Münchner Tage, auf die Uni, aufs Oktoberfest, durch Krise nach Krise und wundert sich über dies und das, was hier in Mitteleuropa gebräuchlich ist, nicht zuletzt über den reichlichen Bierkonsum, was nicht weiter verwundert, war Bier auf Island doch bis 1989 verboten.

hallgrimur_seekrankIn „Seekrank in München“ widmet sich Helgason erstmals einem autobiografischen Thema: „Fast alles ist wahr“, meint er, nur um gleich zu versichern, dass er sich natürlich nicht im Wohnzimmer seiner Vermieterin hinter dem Vorhang versteckt hat, um zu spionieren. Eine Klarstellung, von der er hofft, dass auch die Betroffene ihm glauben wird, die er kürzlich bei einer Lesung in München wiedergetroffen hat. Wie dem auch sei, ein skurriles Lesevergnügen!

Hallgrímur Helgason: Seekrank in München. Roman. Aus dem Isländischen von Karl-Ludwig Wetzig. 416 Seiten, Tropen – Klett-Cotta, Stuttgart 2015 EUR 20,50

Schreiben und älter werden

gleichauf_fantasieDie Literaturwissenschaftlerin Ingeborg Gleichauf geht in diesem Buch der Frage nach, was das Schreiben von Schriftstellerinnen in der dritten Lebensphase, also im Alter über 60 ausmacht. Ob und welche Veränderungen zu erkennen sind. Sie analysiert dabei das Werk von 15 durchwegs bekannten Autorinnen und spannt dabei einen Bogen vom Beginn des 20. Jahrhunderts (Else Lasker-Schüller) bis heute, darunter sind Djuna Barnes und Simone de Beauvoir, Patricia Highsmith und Christa Wolf. Die ältesten noch Lebenden, über die sie schreibt, sind Maria Beig, Ilse Aichinger und Friederike Mayröcker. Die Jüngste ist mit 79 Jahren Maja Beutler. Die meisten blicken auf lange Karrieren in ihrem Metier zurück, es gibt also klarerweise eine Entwicklung in ihrem Schaffen über die Jahre.  Allen gemein ist, dass sie nicht daran denken, mit dem Schreiben aufzuhören, trotz aller Widrigkeiten, die zum Beispiel körperliche Veränderungen mit sich bringen. Die meisten leben eher zurückgezogen, legen viel Energie ins Schreiben und – so Gleichaufs Resümee  – „keine wird sentimental, keine lamentiert“. Immer noch sind viele unbequem, auch kritisch gegenüber sich selbst. Einige entdecken immer neue Seiten ihrer Kreativität, bei allen lebt die Fantasie. Alles in allem ein Kaleidoskop an Künstlerinnenporträts außergewöhnlicher Schreiberinnen. Ein Band zum immer wieder in die Hand nehmen.

Ingeborg Gleichauf: So viel Fantasie. Schriftstellerinnen in der dritten Lebensphase. AvivA Verlag Berlin 2015  EUR  20,45

erstmals erschienen in WeiberDiwan 02/2015