Durst

itäranta_geschmack_von_wasserWir befinden uns wohl 100 Jahre in der Zukunft. Die Erde ist durch den Klimawandel völlig verändert, große ehemalige Landmassen liegen unter dem Meer, die übrigen Gebiete leiden unter heißen Temperaturen und Wassermangel – auch das Gebiet des heutigen Finnlands. Nach jahrzehntelangen Kriegen und Chaos herrscht eine Art globaler Militärdikatatur. Wasser ist das begehrteste Gut, wer den Zugang zu Wasser kontrolliert, hat alle Macht. Das alles erfahren wir nach und nach im Laufe des Buches. Durch die eindringliche Schilderung des Alltages hat eine spätestens ab Seite 20 einen trockenen Mund und großes Verlangen nach einem Glas Wasser. Die Ich-Erzählerin Noria ist die Tochter eines Teemeisters und einer Wissenschaftlerin. Sie möchte in die Fußstapfen ihres Vaters und dessen Vorfahren treten und die Durchführung der rituellen Teezeremonien übernehmen. Mit der Funktion der Teemeisterin übernimmt sie schließlich auch die Verantwortung über ein Geheimnis, das in ihrer Familie seit Generationen weitergegeben wird und das ihr Leben zwar vordergründig angenehmer und privilegiert, aber vor allem sehr gefährlich macht. Die Frage, wem sie noch trauen kann, ob sie ihrer besten Freundin Sanja noch vertrauen kann, wird bestimmend, denn gemeinsam sind sie einer riesigen Verschwörung auf der Spur. Ein Buch, das unter die Haut geht!

Emmi Itäranta: Der Geschmack von Wasser. Roman. Übersetzt von Anu Stohner. 338 Seiten, dtv, München 2014  EUR 15,40

erstmals erschienen in WeiberDiwan 02/2014

Schneewittchen

simukka_rotLumikki, deren Name auf Finnisch Schneewittchen bedeutet, ist zwar noch Schülerin, hat aber ihre eigene Wohnung seit sie in die Stadt gezogen ist, wo sie eine besondere Kunstschule besucht. Sie ist eine Einzelgängerin, die am besten allein zurecht kommt. Darum ist sie auch alles andere als begeistert, als sie von einigen MitschülerInnen in eine mysteriöse Geschichte hineingezogen wird. Alles beginnt mit einer wilden Party, drogenbeeinflussten Jugendlichen und einem Haufen blutgetränkter Geldscheine, die sie im Schnee finden und in einer absurden Aktion in der Dunkelkammer der Schule reinwaschen. Für reichlich Action ist spätestens gesorgt, als einige Kriminelle Lumikki verdächtigen, das Geld versteckt zu haben und versuchen, sie zu entführen. Für Lumikki bleibt schließlich nur die Flucht nach vorn und sie begibt sich in die Höhle des Löwen, um das Rätsel um das blutige Geld zu lüften. Doch hinter der Fassade des toughen Mädchens stecken traumatische Kindheitserinnerungen, Familiengeheimnisse werden angedeutet und auch von der ersten Liebe blieb nur die Erinnerung an einen Sommer mit der lebenslustigen Eisverkäuferin. Der Spannungsbogen ist mit „So rot wie Blut“ aber erst eröffnet, denn der Band ist Teil Eins einer Trilogie. Clever konsturiert, denn ich zumindest will unbedingt wissen, wer Lumikki wirklich ist und wie es ihr weiterhin ergeht!

Salla Simukka: So rot wie Blut. Thriller. Übersetzt von Elina Kritzokat. 281 Seiten, Arena, Würzburg 2014        EUR 15,50

erstmals erschienen in WeiberDiwan 02/2014

Finnische Vielfalt

Helsinki07 049Die Frankfurter Buchmesse ist vorbei. Finnland wieder in weite Ferne gerückt. Geblieben sind die zahlreichen Klischees, die über das diesjährige Gastland medial breit und breiter getreten wurden. Aber zu beobachten war auch, dass über besonders viele Autorinnen berichtet wurde, während kaum ein Autor im Gedächtnis blieb. nordstein hat ausgewählte Neuerscheinungen aus Finnland gelesen und versucht einen Blickwinkel ohne Sauna, PISA-Test und schrullige Schweigsamkeit zu finden.

Finnlands Geschichte ist geprägt von der abwechselnden Vorherrschaft der beiden Nachbarn Schweden und Russland, was auch seine Kultur beeinflusste. Schwedisch ist neben Finnisch immer noch zweite Amtssprache. Obwohl die finnlandschwedische Bevölkerung einen Anteil von nur knapp sechs Prozent an der Gesamtbevölkerung hat, ist die literarische Produktion rege. Finnische Belletristik wird erst seit etwa 150 Jahren überhaupt verlegt, hat sich inzwischen aber zu einer großen Vielfalt entwickelt. Heute gibt es in Finnland 3.500 Verlage, die jährlich etwa 4.500 Titel auflegen. Lesen hat einen hohen Stellenwert, das öffentliche Bibliothekssystem ist bestens ausgebaut. Angeblich werden in Finnland 17 Bücher pro Kopf und Jahr gelesen (optimistische Schätzungen für Österreich sprechen von elf).

Finnische Literatur gilt jedoch als schwer zugänglich, weil schwer zu übersetzen. Finnisch gehört zur finno-ugrischen Sprachfamilie und unterscheidet sich in Grammatik (15 Fälle!) und Syntax grundlegend von den indo-europäischen Sprachen. Im Zusammenhang mit dem mit der Buchmesse einhergehenden Hype an Neuerscheinungen und Übersetzungen wurde auch deren Qualität bemängelt. Interessant ist angesichts der Binnen-I-Diskussionen in Österreich die Tatsache, dass das Finnische kein grammatikalisches Geschlecht kennt. Was im Falle von Übersetzungen schon mal Fragen aufwirft, wenn zum Beispiel die Handlung eines Romans eine nicht näher benannte Angebete andeutet, auf die dann plötzlich mit maskulinen Pronomina verwiesen wird.

Gefeierte AutorinnenFinnland_01

In den Berichten zur Buchmesse kommen auffällig viele Frauen prominent vor. Vielleicht auch deshalb, weil einige optisch auffällige Frauen darunter sind. So zum Beispiel die Bestsellerautorin Sofi Oksanen, die sich in Interviews verwundert zeigte, im deutschsprachigen Raum andauernd auf ihr Äußeres angesprochen zu werden, in Finnland sei das nicht der Fall. Verwunderung äußerte sie auch über sexistische Werbung an allen Ecken und darüber, dass Boulevardzeitungen hierzulande immer noch eine Seite-Fünf-Nackte drucken. Ihr aktuelles Buch „Als die Tauben verschwanden“ beschäftigt sich wie ihr großer Erfolg „Fegefeuer“ mit der Geschichte Estlands.

Die hierzulande wohl bekannteste finnische Autorin wäre heuer 100 Jahre alt geworden – Tove Jansson, die Schöpferin der Mumins. Ihrem Leben und umfassenden Werk als Malerin, Autorin und Comiczeichnerin ist in dieser Ausgabe ein eigenes Porträt gewidmet. Im deutschsprachigen Raum wurden die Mumins besonders durch verschiedene Fernsehadaptionen mehreren Generationen von Kindern zugänglich.

Neue Frauenbewegung

Anfang der 1980er Jahre gewann mit Märta Tikkanen eine weitere, ebenfalls schwedisch schreibende Autorin aus Finnland einige Aufmerksamkeit und wurde in der Neuen Frauenbewegung interessiert rezipiert. In ihrem Buch „Wie vergewaltige ich einen Mann“ (orig. „Män kan inte våldtas“, dt. „Männer kann man nicht vergewaltigen“) bricht sie das Tabuthema Vergewaltigung gleich zweifach. Zum ersten, indem sie überhaupt darüber schreibt, und zum zweiten, indem sie eine vergewaltigte Frau zur Rächerin werden lässt, die ihrem Peiniger ebenfalls sexuelle Gewalt antut.

siekkinen_wieliebeentstehtWie ein Nachklang der Neuen Frauenbewegung liest sich der Erzählband „Wie Liebe entsteht“ von Raija Siekkinen. Im Original sind die preisgekrönten Erzählungen bereits 1991 erschienen. Thematisch kreisen die Geschichten um Paarbeziehungen, Ehe, Betrug, Gewalt. Im Mittelpunkt steht jeweils eine Frau. In „Ein natürlicher Tod“ trauert eine Frau mittleren Alters um ihren Mann, was eine jüngere mit ihrer Einstellung zu Beziehungen allgemein und ihrer eigenen im Speziellen konfrontiert. In „Eine Erfahrung“ kämpft eine Studentin, über eine versuchte Vergewaltigung hinwegzukommen. In der titelgebenden Erzählung „Wie Liebe entsteht“ erfahren wir entgegen dem Titel, wie Liebe manchmal lange unbemerkt vergeht. Obwohl die Erzählstücke recht kurz sind, schafft die Autorin mit wenigen Worten eine sehr authentische, nachvollziehbare Stimmung. Durch knappe Andeutungen erfahren wir vom bisherigen Leben der Protagonistinnen. Eingeflochtene Erinnerungen stellen einen Bezug zwischen einem Jetzt und einem Damals her, eine Spannung an einem Punkt im Leben, wo es gilt, eine Entscheidung für die Zukunft zu fällen oder auch das Momentane zu akzeptieren.

Zur älteren Generation der Autorinnen gehört auch  Ulla-Lena Lundberg, die lundberg_eisseit mehr als fünfzig Jahren schreibt. Sie stammt von den zwischen Finnland und Schweden liegenden Åland-Inseln, die rein schwedischsprachig zu Finnland gehören, aber mit umfassenden Autonomierechten ausgestattet sind, einschließlich Ausnahmen im Zollverkehr, was nach wie vor einträgliche Dutyfree-Geschäfte ermöglicht. In ihren Romanen beschäftigte sich Lundberg immer wieder ausführlich mit der Geschichte und den Lebensbedingungen Ålands. Für „Eis“, ihren ersten auf Deutsch erschienenen Roman, erhielt sie mit dem Finlandia-Preis eine hohe Auszeichnung. Der Roman beschreibt das Leben der Inselwelt in den späten 1940er Jahren. Ein Leben sehr nah an den Naturgewalten, wo man auf den entlegenen Inseln stark auf sich gestellt war. Im Zentrum steht eine junge Pastorsfamilie, die als Zugezogene ihren Platz in der Inselgemeinschaft sucht und findet. Doch das Leben dort ist hart und Glück und Frieden sind nicht von Dauer. Für Liebhaberinnen schöner Bücher auch aufgrund des sehr gelungenen Covers ein Fundstück.

Vorbild Finnland

Finnland gilt gemeinsam mit den anderen skandinavischen Ländern als Vorzeigebeispiel für gelungene Gleichstellungspolitik. Eine sehr hohe Frauenbeschäftigungsquote bei gleichzeitig hoher Geburtenrate ist auf gute soziale Absicherung und einen Rechtsanspruch auf Kinderbetreuungsplätze zurückzuführen. Der Frauenanteil in politischen Institutionen ist hoch. Finnland war 1906 das erste Land, in dem Frauen das aktive und passive Wahlrecht erhielten.

Wie die Realität trotz wunderbarer Statistiken in Finnland aussieht, spiegelt sich freilich eindrücklich in der Literatur. Ganz im skandinavischen Trend gesellschaftskritischer Kriminalliteratur steht etwa Leena Lehtolainen, deren Bücher zeitnah immer auch auf Deutsch erscheinen.

In der ebenfalls sehr bewegten Jugendliteraturszene sticht Salla Simukka hervor, von der heuer der erste Band einer Thrillertrilogie mit dem Titel „So rot wie Blut“ auf Deutsch erschienen ist. Die weiteren Bände sollen demnächst folgen. Neben einer soliden spannenden Krimihandlung (Mord, Prostitution, Korruption, Mafia) überzeugt vor allem die vielschichtige Hauptfigur Lumikki (dt. Schneewittchen), deren Identitätsfindung, Traumaverarbeitung, Liebeszweifel atemlos auf den nächsten Band warten machen.

Finnisch seltsam

sinisalo_finnisches_feuerSeltsamen Charakterzuschreibungen, die im Ausland Finnland allgemein und seinen Kulturschaffenden im Speziellen angedeihen, treten einige junge LiteratInnen offensiv entgegen, indem sie ihre genremäßig schwer greifbaren Werke als „Finnish Weird“ labeln. Geprägt hat den Begriff Johanna Sinisalo, deren Buch „Finnisches Feuer“ dem absolut entspricht. Der deutsche Titel ist leider ziemlich daneben, das Original heißt „Sonnenkern“, was auf die schärfste Chilizüchtung der Welt, so heiß wie der Kern der Sonne, anspielt. Chili ist in Sinisalos dystopischer Welt die angesagteste Droge. Alkohol, Nikotin, selbst Koffein sind verboten und auch am Schwarzmarkt kaum erhältlich. Doch das wirklich Kranke in dieser auf Gesundheit optimierten Welt ist die genetische Veränderung aller weiblichen Kinder in Richtung allgemeiner Schönheitsnormen und die Erziehung der Mädchen zu uniformen dümmlichen Tussis, deren Namen alle auf -anna enden und deren einziger Lebenszweck es ist, mit 14 auf den Heiratsmarkt zu kommen. In einer collagenartigen Zusammenstellung unterschiedlicher Textsorten konstruiert Sinisalo diese Welt und erzählt gleichzeitig die Geschichte zweier ungleicher Schwestern, die auf ganz unterschiedliche Art zugrunde zu gehen drohen. Schwere Kost.

Ebenfalls zum Genre „Finnish Weird“ zu rechnen ist Emmi Itäranta, die in einer an Jugendliche adressierten Geschichte „Der Geschmack von Wasser“ eine ganz andere, aber auch beklemmende Dystopie entwirft.
So unterschiedlich die hier referierten Bücher, so lang ist die Liste derjenigen, die hier noch nicht genannt wurden. Für alle, die noch nicht genug haben, lohnt sich die Suche nach Leena Lander, Monika Fagerholm, Edith Södergran, Anna-Leena Härkönen, Johanna Holmström und Rosa Liksom – oder auch nach den wenigen auf Deutsch erhältlichen samischen Lyrikerinnen, denen auch Aufmerksamkeit gebührt, wie Inger-Mari Aikio-Arianaick oder Rauni Magga Lukkari.

Raija Siekkinen: Wie Liebe entsteht. Erzählungen. Übersetzt von Elina Kritzokat. 176 Seiten, Dörlemann, Zürich 2014 EUR 17,40

Ulla-Lena Lundberg: Eis. Roman. Übersetzt von Karl-Ludwig Wetzig. 527 Seiten, mareverlag, Hamburg 2014 EUR 24,70

Salla Simukka: So rot wie Blut. Thriller. Übersetzt von Elina Kritzokat. 281 Seiten, Arena, Würzburg 2014 EUR 15,50

Emmi Itäranta: Der Geschmack von Wasser. Roman. Übersetzt von Anu Stohner. 338 Seiten, dtv, München 2014 EUR 15,40

Johanna Sinisalo: Finnisches Feuer. Roman. Übersetzt von Stefan Moster. 318 Seiten, Tropen – Klett Cotta, Stuttgart 2014 EUR 22,60

erstmals erschienen in WeiberDiwan 02/2014

Tove Jansson: „Freiheit ist das Beste von allem“

Tove Jansson (1914-2001) ist bis heute die wohl bekannteste jansson_comicschwedischschreibende Autorin Finnlands. Über ihr reiches Künstlerinnenleben berichtet die Kunsthistorikerin Tuula Karjalainen anschaulich und einfühlsam in der nun auf Deutsch erschienenen Biografie.

Jannson war nämlich viel mehr als nur Schriftstellerin, nämlich Kunstmalerin, Illustratorin, Comic-Zeichnerin, Bühnenbildnerin, Dramaturgin, Dichterin, politische Karikaturistin. „Da war sie eine unerbittliche und leidenschaftliche Pazifistin und Antifaschistin. In ihren Gedanken und ihrer Lebensweise war sie eine Feministin, die ihrer Zeit voraus war.“

Als Tochter eines bekannten Bildhauers und einer überaus produktiven Illustratorin war ihr die künstlerische Laufbahn gewissermaßen vorgegeben. Mit dem Vater verband sie eine lebenslange Hassliebe, die Mutter war ihre wichtigste Vertraute. Beide waren künstlerische Vorbilder, während ihre Ehe, in der die Mutter ihre künstlerische Karriere hinter die des Vaters stellte, um sich um Haushalt, Kinder und regelmäßiges Einkommen zu kümmern, das Gegenteil von dem war, was die freiheitsliebende Tove wollte. Einen wunderbaren Einblick in ihre Kindheit bieten auch Janssons Erzählungen in „Die Tochter des Bildhauers“, die mit scharfem Blick auch die patriarchalen Verhältnisse in der Kunstszene aufs Korn nehmen.

jansson_bioJansson studierte Malerei in Stockholm und Helsinki, doch ihre gerade in Schwung kommende Karriere wurde durch den Zweiten Weltkrieg erst einmal gedämpft. Die Erfahrungen der Kriegsjahre verarbeitete sie teilweise durch Schreiben, die Mumin-Familie entstand. Ihren ökonomischen Durchbruch erlebte sie mit den überaus erfolgreichen Mumin-Comics, die in den 1950er Jahren in der englischen Zeitung „The Evening News“ erschienen und von dort um die Welt gingen. Jansson war die Erste, die die Trennlinien zwischen den Comicbildnern in die Geschichten einbezog und als Bildelemente gestaltete. Für viele Zeichnerinnen wurde Jansson zum Vorbild und noch heute sind Frauen in der finnischen Comicszene, sonst oft ein männlich dominierten Genre, überrepräsentiert.

Immer wieder zog es Tove Jansson in ihrer Laufbahn zur Malerei, später auch zur Literatur für Erwachsene, in beiden Bereichen hatte sie Erfolg. Insgesamt ist ihr Leben geprägt von einer unglaublichen Produktivität, und das, obwohl sie immer wieder unter depressiven Episoden litt.

Privat hatte Jansson in den 1930er bis 40er-Jahren einige Beziehungen zu (künstlerisch) einflussreichen Männern, bis sie sich Hals über Kopf in die Theaterregisseurin Vivica Bandler verliebte. Die Frau fürs Leben fands sie schließlich in der Künstlerin Tuulikki Pietilä: „Toves Traum einer Beziehung zwischen zwei selbstständigen, sich gegenseitig ergänzenden und gemeinsam arbeitenden Menschen war Wirklichkeit geworden.“ Die beiden lebten fast 50 Jahre zusammen. Ganz offen, aber nicht öffentlich. Skandal war es keiner, wenn auch manchmal über sie getuschelt wurde: „Ihre Offenheit bedeutete viel für das Leben der sexuellen Minderheiten in Finnland. Obwohl sie auch in dieser Sache nicht auf die Barrikaden gestiegen ist.“

Tove Jansson: Die Tocher des Bildhauers. Übersetzt von Birgitta Kicherer. 127 Seiten, Urachhaus, Stuttgart 2014     EUR 18,40

Tuula Karjalainen: Tove Jansson. Die Biografie. Übersetzt von Anke Michler-Janhunen und Regine Pirschel. 352 Seiten, Urachhaus, Stuttgart 2014            EUR 37,10

erstmals erschienen in WeiberDiwan 02/2014

Zäh und immer zäher

lutz_groenlandBirgit Lutz ist freie Journalistin und Autorin, die sich in ihrer Arbeit ganz der Arktis verschrieben hat. Nach ersten Expeditionen auf Schiffen folgten zwei Ski-Expeditionen zum Nordpol. Ihr aktuelles Buch, das sie einen Expeditionsthriller nennt, heißt „Grenzerfahrung Grönland“ und berichtet von ihrer Durchquerung Grönlands von Westen nach Osten im Jahr 2013. 560 Kilometer auf Skiern, im Schlepptau einen Schlitten, der anfangs mehr wiegt als sie selbst. Hunderte Kilometer keine Menschenseele, nur weiße Fläche, Gletscher, der dem Auge keinerlei Anhaltspunkt bietet. Auf die körperlichen Herausforderungen hat sie sich ausreichend vorbereitet, die Ausrüstung ist top. Hightech mit Satellitentelefon als Notfallverbindung, GPS, Zugang zum Wetterbericht. Und dennoch die psychischen Herausforderungen hatte Lutz unterschätzt. Alles steht und fällt mit der Stimmung im Team. Die beiden Männer, mit denen sie loszieht, kennt sie aus Expeditionskreisen, gemeinsam auf Tour waren sie noch nie. Sie findet sich wieder mit einem Exzentriker, der im Zweifelsfall immer tut, was er will und aufgrund seiner körperlichen Überlegenheit gegenüber den beiden anderen einfach davonzieht, und einem netten Kumpel, der Konflikte meidet und lieber nachgibt. Thriller ist keine Übertreibung für das, was sich da im ewigen Eis abspielt. Trotzdem ist und blieb Birgit Lutz voller Abenteuerlust und steckt mit ihrer Begeisterung an. Es gibt nicht viele Frauen auf derlei Expeditionen, was sich auch im Angebot an entsprechender Bekleidung niederschlägt – Stichwort Pinkelpause. Meist ist Geschlecht aber kein Thema, vielmehr geben diverse Verletzungen oder Schmerzen, Unterschiede in der körperlichen und seelischen Belastbarkeit in dieser Extremsituation den Ausschlag.

Birgit Lutz: Grenzerfahrung Grönland. Mein Expeditionsthriller. 382 Seiten, btb Verlag, München 2014          EUR 20,60

erstmals erschienen in WeiberDiwan 01/2014

Tatort Villengegend

holt_schattenkindAnne Holt ist zurück mit einem Krimi um das Duo Yngvar Stubø, Kommissar, und Inger Johanne Vik, Kriminalpsychologin. Es ist der Nachmittag des 22. Juli 2011, als Inger Johanne eine alte Freundin besucht und sich am Ort eines Unglücks wiederfindet – der 8-jährige Sohn der Freundin ist tot, dem ersten Anschein nach von einer Leiter gestürzt. Inger Johanne ist mit verzweifelten Eltern konfrontiert und wird immer tiefer in den Fall hineingezogen. Die gewohnten Polizeiroutinen funktionieren an diesem Tag nicht, doch für Inger Johanne dauert es Stunden, bis sie erfährt, was an diesem Nachmittag im Osloer Regierungsviertel und auf der Insel Utøya passiert ist. Yngvar sieht sie tagelang fast gar nicht, allein mit einem Polizeineuling ermittelt sie in dem Fall, in dem sich immer mehr Fragen auftun. Dem großen nationalen Trauma stellt Holt die Trauer einer Familie um ihr Kind gegenüber. Doch in dieser Familie kam der Tod nicht überraschend von außen, sondern langsam aus dem nächsten Umfeld. Alle Hinweise wurden übersehen oder verschwiegen, doch die tägliche Gewalt gegen Kinder gibt es trotzdem. Ein Krimi, der ohne viel Blut, ohne todesmutige ErmittlerInnen, ohne mafiöse Schurken und ohne Nahkampf für Gänsehaut sorgt und auf der allerletzten Seite noch eine Wendung hinzufügt, über die Anne Holt-Fans noch einige Zeit zu grübeln haben.

Anne Holt: Schattenkind. Kriminalroman. Übersetzt von Gabriele Haefs. 332 Seiten, Piper, München 2013      EUR 20,60

erstmals erschienen in WeiberDiwan 01/2014

Hilja gegen den Rest der Welt

lehtolainen_nest_des_teufelsEndlich ist er da, der dritte Band von Leena Lehtolainens Thrillertrilogie rund um die Leibwächterin Hilja Ilverskero. Hilja ist so tough, wie wir sie auch bisher schon kennengelernt haben. Als Leibwächterin einer weißrussischen Oligarchentochter, die einen finnischen Geschäftsmann heiraten will, hat sie wieder einen Job in ihrem Metier. Doch der vermeintliche Alltag gerät bald durcheinander, als in ihrer unmittelbaren Umgebung alte Bekannte und Kontrahenten auftauchen – ihr Geliebter, der Agent David Stahl, sowie der Waffenhändler, den ersterer im ersten Band um einen ertragreichen Deal gebracht hat. Während sich dieser alte Konflikt zuspitzt, gilt es auch privat einiges durchzustehen: Hiljas Vertrauter in der Polizei, Laitio, ist todkrank und Hiljas Vater, der ihre Mutter ermordet hat und seither in psychiatrischer Sicherheitsverwahrung sitzt, soll entlassen werden. Es kommt zu mehr als einem Showdown und Spannung ist garantiert. Was sich allerdings der Verlag dabei denkt, im Klappentext das Ende eines Thrillers zu verraten, bleibt unerklärlich und hat das Lesevergnügen merklich getrübt. Also Schutzumschlag wegwerfen und gleich mit dem Lesen beginnen!

Leena Lehtolainen: Das Nest des Teufels. Thriller. Übersetzt von Gabriele Schrey-Vasara. 444 Seiten, Kindler, Reinbek bei Hamburg 2014            EUR 20,60

erstmals erschienen in WeiberDiwan 01/2014

Möwengekreische

Die Idee klang originell und war der Grund für den Griff zu Sina Beerwalds neuem auf Sylt spielendem Krimi „Mordsmöwen“: ein Mensch verschwindet, doch kein schrulliger Inselkommissar macht sich auf die Suche und auch keine ambitionierte Journalistin, nein, eine Schar Möwen ermittelt. Und das auf durchaus lustige Art und Weise. Die auf Sylt lebende Autorin schafft es, viel Lokalkolorit zu verbreiten und hat das Verhalten der Möwen nicht nur intensiv beobachtet, sondern beschreibt es auch prägnant. Viele Slapstick Szenen wären durchaus tauglich für einen Animationsfilmhit. Doch leider halten Charaktere und Geschichte nicht mit der Idee mit. Die „Möwenbande“ besteht aus klischeehaften Typen: der doofe alte Boss, der nichts mehr mitkriegt, der überforderte alleinerziehende Vater mit aufsässigem Teenagersohn, der Alkoholiker, der Schöne, der natürlich eigentlich schwul ist, und der Tollpatsch, gleichzeitig der geheime Held, der am Ende natürlich die einzige Möwenfrau abkriegt, eine Tussi, die dafür ihren neureichen Möwerich-Verehrer aufgibt. Die Kriminalgeschichte ist ganz ordentlich konstruiert, doch wenn ich noch einen Krimi lesen muss, in dem der arme Mörder nur deswegen „gestört“ ist, weil er eine „böse“ Mutter hatte, mach ich es wie der Möwenheld und stürze mich vor Verzweiflung vom nächsten Leuchtturm!

PS: Weder die Möwe noch die Rezensentin kamen dabei zu Schaden.

Sina Beerwald: Mordsmöwen. Sylt Krimi. 208 Seiten, Emons, Köln 2013           EUR 10,20

erstmals erschienen in WeiberDiwan 02/2013

Sommer an der See

dohm_sommerlieben Hedwig Dohm, Grande Dame der Ersten (bürgerlichen) Frauenbewegung inDeutschland, schrieb 1909 als beinahe 80-Jährige ihren letzten Prosaband „Sommerlieben“, der nun zum wiederholten Mal in gut 100 Jahren neu aufgelegt wurde. Es handelt sich dabei um eine luftig leichte „Freiluftnovelle“ in Briefform, die viele Phänomene ihrer Zeit haarscharf unter die Lupe nimmt. Die Handlung spielt in einem der zur Jahrhundertwende sehr beliebten Seebäder an der Ostsee. Marie Luise – ja die Namen jener Zeit hört man heute wieder auf vielen Spielplätzen – schreibt an ihren Schwager, der von seiner Frau, ihrer Schwester, verlassen wurde und um deren gemeinsame Kinder Marie sich während der Sommerferien kümmert. So berichtet sie gleich am ersten Tag verzückt, dass man sie im Kurkalender irrtümlicherweise als „jüngere Witwe“ führt und somit ihre Stellung unter den Kurgästen eine viel bessere ist als als ledige Frau Mitte 30. Humorvoll beschreibt sie den Standesdünkel der Leute, die Launen und Streiche der Kinder und die unverschämten, aber einfallsreichen Versuche der KüstenbewohnerInnen die TouristInnen abzuzocken. Besonders amüsant auch die Episoden mit den herumscharwenzelnden Verehrern. Die Antworten des Schwagers fehlen, aber er wird wohl eifersüchtig gewesen sein.

Ein schmaler Band, den man in wenigen freien Stunden verschlingt, bevorzugt im Strandkorb, aber bei Schietwetter am Sofa passt er auch.

Hedwig Dohm: Sommerlieben. Freiluftnovelle. 120 Seiten, edition ebersbach, Berlin 2013          EUR 16,30

erstmals erschienen in WeiberDiwan 02/2013

60ies in Norway

Anne B. Ragde führt uns von Etage zu Etage eines Wohnhauses in den 1960er Jahren. Wir treffen unterschiedliche Familien, lernen ihre Vorlieben und Schwächen können. Die Frauen sind Hausfrauen, die Männer arbeiten – oft als Verkäufer für Autos oder Instantsuppen. Es wird viel geputzt und brav konsumiert, was man aus US-Filmen so kennt: Autos, Staubsauger, Tiefkühltruhen. Aber in dieser neuen städtischen Mittelschicht, die im Kontrast zu ihrer oft bäuerlichen Herkunft, ein Leben in Wohlstand führt, gibt es wenig wirkliche Zufriedenheit. Vielmehr ein beständiges Gefühl, es doch gut haben zu müssen, weil die Zeiten nun bessere sind. Die mögliche Erwerbstätigkeit der Frauen kommt immer wieder zur Sprache; entweder weil ein Zusatzeinkommen nötig wird, um dem Konsumdruck standzuhalten, oder als Drohung an den Ehemann, damit er mehr Haushaltsgeld rausrückt.

Das Haus ist hellhörig und die Nachbarschaft neugierig, aber es gibt keinerlei Nähe zwischen den BewohnerInnen. Die hübsche Kinderlose aus dem dritten Stock wird von allen Männern als Sexsymbol angeschmachtet und von allen Frauen verachtet, bleibt selbst aber extrem einsam. Die psychisch kranke Jungmutter bekommt keine Hilfe. Der Roman zeichnet mal unterhaltsam und ironisch beobachtend, mal tragisch analysierend ein zwiespältiges Zeitbild einer Art Zwischenepoche: das alte bäuerlich geprägte Norwegen ist auf dem Weg zum modernen Sozialstaat, aber noch lange nicht dort angekommen.

Anne B. Ragde: Ich werde dich so glücklich machen. Roman. Übersetzt von Gabriele Haefs. 287 Seiten, btb Verlag, München 2012        EUR 20,60

erstmals erschienen in WeiberDiwan 01/2013