Vilhelm Moberg aktuell

Moberg2Ich habe heute einen Post auf Instagram zu Vilhelm Mobergs Auswanderer-Tetralogie geschrieben. Der wurde etwas lang, denn so viel gäbe es dazu zu schreiben. Ich habe die ungefähr 2000 Seiten vor zwei Jahren im Urlaub in Småland verschlungen, in der Gegend also, von wo die Gruppe, deren Leben man in den Romanen begleitet, nach Amerika aufbrach. Das Werk ist nicht nur ein großartiges Zeugnis dieser einschneidenden Epoche in Schwedens Geschichte – immerhin verließen zwischen ca. 1850 und 1920 1,5 Millionen Menschen Schweden vor allem Richtung USA – sondern beweist seine Zeitlosigkeit gerade jetzt, wo Immigration in Europa ein so dominantes Thema ist. Viele der Emotionen, die Moberg schildert, sind heute wie damals ähnlich: Ungewissheit, Angst, Heimweh… Bei Menschen, die flüchten mussten, ist die Intensität dieser Gefühle noch stärker und es kommen Traumatisierungen hinzu.

Die schwedische Tageszeitung Dagens Nyheter brachte vor kurzem eine interessante Reportage mit dem Titel Sverigebreven (dt. Die Schwedenbriefe) über die Ähnlichkeiten zwischen den Briefen, die vor 100 Jahren die EmigrantInnen an die in Schweden Zurückgebliebenen schrieben, und den Botschaften, die Flüchtlinge, die heute in Schweden gestrandet sind, in ihre Herkunftsländer schicken, selten als Brief, dafür als E-Mail, SMS oder Videobotschaft.

Die auffälligste Gemeinsamkeit ist das Bestreben, das Erlebte in abgemilderter, ja beschönigender Form darzustellen. Die Motive dahinter sind vielfältig. Einerseits versuchen viele jüngere Leute, die etwa ihre Eltern zurückgelassen haben, ihre Erlebnisse als weniger dramatisch darzustellen, damit sich die Zurückgebliebnen weniger Sorgen machen. Andererseits ist es aber auch so – und das wird in der literarischen Form bei Moberg so gut nachvollziehbar – dass die Menschen sich oft erst selbst damit auseinandersetzen müssen, dass vieles so viel schlechter geht als erwartet. Bei Moberg ist das etwa eine wochenlange Überfahrt auf Segelschiffen, mit Stürmen, Seekrankheit, Ungeziefer, Beengtheit und dem Tod von Mitreisenden. Aber auch nach der Ankunft in der neuen Welt dauert es oft Jahre, bis wieder der Lebensstandard von vor der Emigration erreicht ist. Wenn das überhaupt gelingt. In den Berichten nach Hause klingt das anders. Auch wenn heute eine Flüchtlingsfamilie nach Hause mailt, dass Schweden ganz wunderbar und man in einem Hotel untergebracht sei, obwohl man im Winter in einem Zelt schlafen muss. Was unbedingt aufrecht erhalten werden muss, ist die Hoffnung auf eine bessere Zukunft.

 

Vilhelm Mobergs Romane heißen Utvandrarna (1949), Invandrarna (1952), Nybyggarna (1956) und Sista brevet till Sverige (1959). Auf Deutsch sind sie erschienen unter den Titeln Die Auswanderer, In der neuen Welt, Die Siedler und Der letzte Brief nach Schweden.

Briefe von Astrid

Lindgren_BriefwechselUnzählige Briefe erhielt Astrid Lindgren im Lauf der Jahre von ihren Fans. Und alle wurden sie beantwortet. Anfangs von der Autorin selbst, später, als die Flut von Briefen unüberschaubar wurde, von einer Assistentin. Lena Törnqvist arbeitete intensiv mit den vielen im Nachlass erhaltenen Briefen und entdeckte dabei, dass es zwischen Lindgren und dem Mädchen Sara einen über Jahrzehnte dauernden Briefwechsel gab. Phasenweise in kurzen Abständen, dann wieder mit vielen Jahren dazwischen gab es einen Austausch zwischen den beiden. Als Sara zum ersten Mal schreibt, ist sie zwölf Jahre alt. Sie will – auch angeregt von den Pippi-Verfilmungen – Schauspielerin werden. Der angebeteten Autorin Lindgren schreibt sie einen großschnäuzigen Brief, in dem sie sich über die KinderdarstellerInnen der Lindgrenfilme auslässt. Lindgren antwortet sachlich, aber streng und gibt zu bedenken, ob eine solche Form der Kritik gerechtfertigt ist. Diese erste Antwort ist der einzige Brief, der nicht erhalten ist, weil Sara ihn aus Scham vernichtet hat. Doch sie schreibt wieder und findet eine Freundin und Unterstützerin in Lindgren, die ihrerseits schnell erkennt, dass Sara Probleme hat, die weit über das Maß üblicher Pubertätsschwierigkeiten hinausgehen. Sie wird eine Art heimliche Vertraute, die aus der Perspektive der um 50 Jahre Älteren versucht, manche Dinge zu relativieren, die Mut macht, die Schule weiterzumachen und die klare Worte findet, wenn Sara zum Beispiel berichtet geschlagen worden zu sein. So lernen wir Astrid Lindgren in einer ganz anderen Rolle kennen, nicht nur als Autorin, die sich in fiktiven Geschichten mit schwierigen Kindheitsthemen auseinandersetzt, sondern als eine Art Fern-Sozialarbeiterin, die einen Ton anschlägt, der auch 40 Jahre später noch nicht altbacken klingt.

Astrid Lindgren und Sara Schwardt: Deine Briefe lege ich unter die Matratze. Ein Briefwechsel 1971-2002. Aus dem Schwedischen von Birgitta Kicherer. 237 Seiten, Oetinger, Hamburg 2015  EUR  20,60

erstmals erschienen in WeiberDiwan 02/2015

Sommer an der See

dohm_sommerlieben Hedwig Dohm, Grande Dame der Ersten (bürgerlichen) Frauenbewegung inDeutschland, schrieb 1909 als beinahe 80-Jährige ihren letzten Prosaband „Sommerlieben“, der nun zum wiederholten Mal in gut 100 Jahren neu aufgelegt wurde. Es handelt sich dabei um eine luftig leichte „Freiluftnovelle“ in Briefform, die viele Phänomene ihrer Zeit haarscharf unter die Lupe nimmt. Die Handlung spielt in einem der zur Jahrhundertwende sehr beliebten Seebäder an der Ostsee. Marie Luise – ja die Namen jener Zeit hört man heute wieder auf vielen Spielplätzen – schreibt an ihren Schwager, der von seiner Frau, ihrer Schwester, verlassen wurde und um deren gemeinsame Kinder Marie sich während der Sommerferien kümmert. So berichtet sie gleich am ersten Tag verzückt, dass man sie im Kurkalender irrtümlicherweise als „jüngere Witwe“ führt und somit ihre Stellung unter den Kurgästen eine viel bessere ist als als ledige Frau Mitte 30. Humorvoll beschreibt sie den Standesdünkel der Leute, die Launen und Streiche der Kinder und die unverschämten, aber einfallsreichen Versuche der KüstenbewohnerInnen die TouristInnen abzuzocken. Besonders amüsant auch die Episoden mit den herumscharwenzelnden Verehrern. Die Antworten des Schwagers fehlen, aber er wird wohl eifersüchtig gewesen sein.

Ein schmaler Band, den man in wenigen freien Stunden verschlingt, bevorzugt im Strandkorb, aber bei Schietwetter am Sofa passt er auch.

Hedwig Dohm: Sommerlieben. Freiluftnovelle. 120 Seiten, edition ebersbach, Berlin 2013          EUR 16,30

erstmals erschienen in WeiberDiwan 02/2013