Reise zum Ich

Eine junge Lehrerin pendelt täglich mit dem Zug in eine nahegelegene Stadt, um zu ihrer ersten Arbeitsstelle zu gelangen. Vieles ist in ihrem Leben im Umbruch, die neue Rolle als Lehrende, nicht sehr viel älter als ihre Schüler*innen, es passt noch nicht. Nicht so ganz passt auch die Affäre zu dem verheirateten Mann, den sie am ersten Arbeitstag im Zug trifft. Die Ich-Erzählerin startet unsicher in ihren neuen Lebensabschnitt. Der Arbeitsalltag ist überfordernd und schon irgendwie bedrückend gleichzeitig. Sie pendelt nicht nur zwischen ihrer Wohnung und der Schule, sondern auch zwischen Vergangenheit und Zukunft, Sich-Gehenlassen und Sich-Zusammenreißen, Gefühl und Vernunft. Die Suche der „Neuen Reisenden“ porträtiert die dänische Autorin Tine Høeg in ihrem preisgekrönten Debutroman von 2017, der nun auch auf Deutsch erhältlich ist. Als monologische Darstellung war das Werk auch schon auf der Bühne. Das erste Durchblättern macht etwas stutzig, die kurzen Kapitel in einem lyrischen Textsatz, jeder neue Satz eine neue Zeile, manchmal nur Schlagwörter, keine Interpunktion – geht sich da ein Roman aus? Es geht. Und wie. Trotz knappster Sprache, erzeugt Høeg ein extrem dichtes Leseerlebnis. Es wird genug gesagt, um in die Welt der Erzählerin hineingesogen zu werden und teilzuhaben an diesem jungen Erwachsenenleben der heutigen Zeit. Es bleibt große Vorfreude auf mehr von Tine Høeg.

Tine Høeg: Neue Reisende. Aus dem Dän. von Gerd Weinreich. 128 Seiten, Droschl, Graz/Wien 2020, EUR 19,00

erstmals erschienen in WeiberDiwan Sommer 2020

Aufbruch

nors_rechts_blinkenAufgewachsen am letzten Ende der dänischen Provinz lebt Sonja nun schon seit dem Studium und somit über zwanzig Jahren in Kopenhagen. Sie ist erfolgreiche Übersetzerin eines schwedischen Bestseller-Krimiautors, was heißt, sie lebt bescheiden. Sonja lebt alleine und einsam. Der Kontakt zu ihrer Schwester ist so gut wie inexistent. Die Verbindung zu den Eltern erkaltet. In einem Versuch aus diesem Stadium auszubrechen, will sie endlich den Führerschein machen, doch sie fühlt sich mehr als unbegabt, was sich kaum dadurch ändern lässt, dass ihre großschnäuzige, aggressive Fahrlehrerin immer für sie schaltet, während sie ununterbrochen auf sie einredet – über alles, nur nicht übers Autofahren. Die Kraft, die es braucht, um gegen all das anzukämpfen, aus diesem ohnmächtigen Befinden auszubrechen, macht Dorthe Nors in ihrem Roman ganz real spürbar. Sonja schleppt sich durchs Leben, aber kleine Schritte – wie der Wechsel der Fahrlehrerin – setzen eine Entwicklung in Gang. Trotz der lähmenden Thematik wird der Inhalt des Buches nie depressiv und auch der Lesefluss nicht gehemmt. Für Sonja geht das Leben vorwärts und die Leserin bleibt in positiver Stimmung zurück.

Dorthe Nors: Rechts blinken, links abbiegen. Aus dem Dän. von Franz Zuber. 192 Seiten, Kein & Aber, Zürich – Berlin 2016 EUR 20,60

erstmals erschienen in WeiberDiwan 02/2016

Hänsel und Gretel

helle_wenndumagstAlle, die schon mal in Dänemark waren, fragen sich wahrscheinlich, ob man sich in dänischen Wäldern tatsächlich verirren kann. Man kann, zumindest im Roman. Die bekannte Autorin Helle Helle schickt in ihrem neuesten Buch Roar und eine namenlose Frau jeweils für sich joggend in den Wald. Es ist Oktober und düster, bald wird es dunkel. Beide finden den Weg nach Hause nicht mehr, doch sie treffen einander und verbringen eine abenteuerliche Nacht im Wald. Dort ist es unheimlich und doch auch wieder nicht. Verlaufen haben sich beide auch in ihren Leben, wie wir in Rückblenden erfahren. Es kommt ein neuer Morgen und nach langem Suchen und vielen Magenkrämpfen finden sie zumindest einen Außenposten der Zivilisation, eine Art Hexenhaus im Wald, es gibt zu essen, aber Hexe lässt sich keine blicken und so auch keine reale Gefahr, die sie überwinden könnten, um befreit zu werden. Also gibt es auch keinen Weg nach Hause. Die Geschichte endet im Ungewissen.

Helle Helle: Wenn du magst. Aus dem Dän. von Flora Fink. 192 Seiten, Dörlemann, Zürich 2016 EUR 20,60

erstmals erschienen in WeiberDiwan 02/2016

Blixen im Kleinformat

Als junge Frau konnte Tania (Karen) Blixen es kaum erwarten aus Dänemark wegzukommen. Sie träumte von Afrika und fand in Kenia eine Heimat, in der sie aus ökonomischen und gesundheitlichen Gründen aber nicht bleiben konnte. Die Rückkehr nach Dänemark, genauer gesagt auf das Familienanwesen Rungstedlund nördlich von Kopenhagen an der Küste des Öresunds gelegen, war eine Niederlage. Doch hier blieb Blixen und noch heute ist Rungstedlund eine Pilgerstätte für ihre Fans. In dem vorliegenden kleinen Heft haben Bernd (Text) und Angelika (Fotos) Fischer eine Zusammenschau von Blixens Biografie mit historischen wie neuen Schwarz-Weiß-Fotografien geschaffen. Für Neugierige, die bisher nur die Hollywood-Version von „Jenseits von Afrika“ kennen, ist es ein Einstieg ins Leben der Autorin. Für Blixen-Kenner*innen ist es ein Kleinod zum Schmökern, Blättern und vielleicht der Anstoß, bei einer Reise in den Norden einen Abstecher nach Rungstedlund zu machen.

Bernd und Angelika Fischer: Tania Blixen in Rungstedlund. Menschen und Orte. 32 Seiten, Edition A. B. Fischer, Berlin 2015 EUR  9,10

erstmals erschienen in WeiberDiwan 02/2015

Short Cuts

Mich erinnerte dieses Buch – nicht nur im Titel – sofort an den Film Short Cuts (1993), etliche anfangs lose (Liebes-)Geschichten laufen hier gleichzeitig, berühren sich manchmal oder verbinden sich. Dass sich das Ganze großteils in der dänischen Provinz abspielt, macht es aber auch wieder originell. Die Erzählungen kommen direkt aus dem heutigen Teenageralltag – Handys, Casting-Shows und Computerspiele sind ständig dabei. Es geht viel um Verliebtsein, Ausgehen und Partys, aber auch Gewalt in Beziehungen. Das Ende ist dann auch richtig krimimäßig spannend. Bin ich froh, kein Teenie mehr zu sein, aber vor 20 Jahren hätte ich das Buch geliebt!

Mette Finderup: Love Cuts. Übersetzt von Maike Dörris. 254 Seiten, Beltz & Gelberg, Weinheim/Basel 2010 EUR 15,40

Ab 14 J.

erstmals erschienen in WeiberDiwan 02/2010