Lyrik in zwei Sprachen

„Der Sonnenball/Schwindet in die Polarnacht/Um im Frost zu verglimmen“ – es sind Verse wie dieser, die in der Gedichtsammlung „Sahne für die Sonne“ der samischen Autorin Inger-Mari Aikio die acht Jahreszeiten Lapplands fühlbar machen. Entstanden sind die Gedichte in einem gemeinsamen lyrischen Musikprojekt der Autorin mit dem finnischen Musiker Miro Mantere. Der Form nach sind die kurzen Gedichte eine Mischung aus Haiku und Tanka, die Aikio „Taiku“ nennt. Ausgehend von Naturmotiven schrieb die zweisprachige Autorin insgesamt über 300 Gedichte, teilweise auf Samisch, teilweise auf Finnisch, wobei immer zwei einander inhaltlich entsprechen, aber nicht wortwörtlich übersetzt sind, sondern in der jeweiligen Sprache die selbe Wirkung mit den jeweils am besten passenden sprachlichen Mitteln erzeugt wird. Um diese Dopplung auch für eine deutsche Ausgabe nachvollziehbar zu machen, wurde mit zwei (ebenfalls verwandten) Zielsprachen – Deutsch und Englisch – gearbeitet. Studierende der Uni Bielefeld arbeiteten dafür mit erfahrenen Dozentinnen und professionellen literarischen Übersetzerinnen zusammen. Das Ergebnis ist somit nicht nur in den lyrischen Naturbeschreibungen in jeder Sprache interessant, sondern auch in der Zusammenschau beider Übersetzungen und dem Herantasten an die sprachlichen Nuancen. „Even the sun must/Surrender into the polar night/Let it lead into the frost”. Ein Must-Read.

Inger-Mari Aikio: Sahne für die Sonne. 94 Seiten. Verlag Hans Schiler, Berlin/Tübingen 2018     EUR 16,50

Finnischer Winter

Zum vierten Mal schickt die finnische Autorin Leena Lehtolainen ihre Heldin Leibwächterin Hilja Ilveskero zu einem neuen Auftrag. Auf einem einsamen Landgut wohnt die sehr alte Dame Lovisa Johnson, die befürchtet, dass man ihr nach dem Leben trachtet. Hilja soll sie beschützen. Schnell tauchen jede Menge Verwandte auf, denen Hilja nicht unbedingt traut, gibt es doch ein großes Erbe zu erwarten. Seltsame Dinge geschehen, auf Hilja wird geschossen und Geschichten aus längst vergangenen Zeiten verweben sich mit der Gegenwart. Für Spannung ist gesorgt. Hilja ist tough wie immer, aber stabiler und konzentrierter als in den letzten Bänden. Überhaupt spielt die Vergangenheit wenig Rolle und das Buch funktioniert auch alleinstehend wunderbar. Mit Lovisa erhält die Heldin außerdem Gesellschaft von einer interessanten Figur, deren Geschichte als alleinstehende Gutsherrin und Unternehmerin auch sozialpolitische Fragen streift. Immer wieder gerne!

Leena Lehtolainen: Schüsse im Schnee. Aus dem Finn. von Gabriele Schrey-Vasara. 381 Seiten, Rowohlt, Reinbek/Hamburg 2017 EUR 20,60

erstmals erschienen in WeiberDiwan 02/2017

Finnische Juwelen

Lehtolainen_EchodeinertatenMaria Kallio ist wieder da. Ihre Abteilung bei der Espooer Polizei steht vor der Auflösung, doch ein Fall ist noch zu lösen: der Juwelenhändler Jaakko Pulma wurde in einer Kirche ermordet. Was das Motiv angeht, tappen die ErmittlerInnen lang im Dunkeln. Jede Menge Leute machen sich verdächtig, der konkurrierende Geschäftsmann, die ehemalige Mitarbeiterin, ein psychisch kranker Jugendlicher. Dazu kommt, dass die Frau des Ermordeten eine aufstrebende Parlamentsabgeordnete ist und Zusammenhänge der Tat mit einem Familienunglück in ihrer Vergangenheit nicht ausgeschlossen werden können. Ihr junger, hochmotivierter Assistent wiederum drängt bei jeder Gelegenheit ins Rampenlicht. Kallio muss also vor allem Ordnung ins große Personenregister bringen. Ein weiterer Mord, eine Bombendrohung und ein Showdown auf der Langlaufloipe bringen Spannung. Dennoch ist alles ziemlich Routine, professionell, aber als Kallio-Fan wünscht eine sich, sie möge nun an eine Stelle versetzt werden, wo es wieder neuen Pep gibt.

Leena Lehtolainen: Das Echo deiner Taten. Maria Kallio ermittelt. Aus dem Finn. von Gabriele Schrey-Vasara. 413 Seiten, Kindler, Reinbek b. Hamburg 2016        EUR 10,60

erstmals erschienen in WeiberDiwan 01/2016

Hintergedanken

jansson_ehrliche_betruegerinDunkel und kalt ist es in dem kleinen Ort an der finnischen Küste. Das Meer gefroren, der Schnee so hoch wie lange nicht. Am Dachboden über dem Kaufladen lebt Katri, eine Eigenbrötlerin, von vielen zugleich argwöhnisch beäugt wie auch geschätzt, denn Katri ist äußerst geschickt im Umgang mit Zahlen und versteht viel von Geschäftlichem. Da sie außerdem immer ehrlich ist, wird sie oft um Rat gebeten. Streitereien löst sie sachlich einwandfrei, zieht sich dabei aber meist den Unmut beider Parteien zu, da sie eben nicht parteiisch ist. Seit ihre Eltern tot sind, sieht Katri es als wichtigste Aufgabe, sich um ihren jüngeren Bruder zu kümmern. Sein größter Wunsch, ein eigenes Boot, liegt jedoch weit jenseits ihrer finanziellen Möglichkeiten. Im Dorf wohnt auch Aemelin, eine erfolgreiche Illustratorin von Kinderbüchern. Sie ist schon älter, wohlhabend, reichlich schrullig und zeichnet die ewig gleichen geblümten Kaninchen. Katri beginnt, Aemelin kleine Gefallen zu tun, mit dem Hintergedanken so nach und nach, aber „vollkommen ehrlich“ an ihr Geld zu kommen. Recht schnell wird die Verbindung enger, Katri zieht in Aemelins Villa, ordnet ihre gesamte Korrespondenz, verhilft ihr zu besseren Verträgen mit den Verlagen. Doch auch Aemelin hat ihre Hintergedanken und schon bald ist nicht mehr klar, wer hier von wem mehr profitiert. Ein ausgesprochen angenehmes Leseerlebnis in einem stimmungsvoll erdichteten Kosmos, Tove Jansson ganz anders und doch ganz sie selbst.

Tove Jansson: Die ehrliche Betrügerin. Roman. Aus dem Schwedischen von Birgitta Kicherer. 173 Seiten, Urachhaus, Stuttgart 2015 EUR  19,50

erstmals erschienen in WeiberDiwan 02/2015

Lumikkis Schwester

simukka_schwarzEndlich ist er da, der dritte Band der Lumikki-Trilogie der finnischen Autorin Salla Simukka. Und es wird, wie zu erwarten war, schaurig und blutig. Lumikki hat sich gerade erst von den Erlebnissen in Prag erholt. Der Herbst war etwas ruhiger und sie ist neu verliebt, als sie in der Vorweihnachtszeit plötzlich rätselhafte Botschaften bekommt. Jemand weiß nicht nur alles über ihr derzeitiges Leben, weil er sie anscheinend beobachtet, sondern auch über die geheimnisvollen Ereignisse in ihrer Kindheit, an die sie selbst nur vage Erinnerungen hat. Hatte sie wirklich eine Schwester? Die Botschaften werden zu Drohungen und Lumikki wagt nicht, sich jemandem anzuvertrauen. Dann taucht auch ihre alte Liebe Flamme wieder auf. Doch wem kann sie noch vertrauen? Das Buch ist spannend, die Auflösung des Spannungsbogens am Ende schlüssig. Leider kann der Band aber wie schon der zweite Teil der Trilogie nicht hundertprozentig an die literarische Qualität des ersten Bandes anschließen. Mit „So rot wie Blut“ wurde Simukka – völlig zu Recht – über Nacht berühmt, die Rechte für die Trilogie wurden schnell in zahlreiche Länder verkauft und damit wohl zu viel Zeitdruck erzeugt. Dennoch eine große Lese- und Geschenkempfehlung für alle, die Spannung und Nervenkitzel suchen – auch ohne Fantasy.

Salla Simukka: So schwarz wie Ebenholz. Roman. Aus dem Finnischen von Elina Kritzokat. 197 Seiten, Arena, Würzburg 2015  EUR  14,40

erstmals erschienen in WeiberDiwan 02/2015

Sex, nerds and archeology

Quasi als Nachtrag zur großen Menge an finnischen Neuerscheinungen supinen_dreianlässlich der vorjährigen Frankfurter Buchmesse erreichte mich auch noch Miina Supinens Roman „Drei ist keiner zu viel“. Zwei Erzählperspektiven wechseln einander darin ab: die in der dritten Person gehaltene Perspektive, in der wir die Archeologiestudentin Stella und ihre Sandkastenliebe und nerdigen Freund Antti begleiten und die Perspektive des älteren, wenig erfolgreichen, dafür umso lauter Sprüche klopfenden Archäeologen Victor, deren Originalität darin besteht, dass der Ich-Erzähler Victor bereits tot ist. Gewaltsam zu Tode gekommen, im Verlauf eines verrückten Sommers. Und wahrscheinlich ist das Wissen, dass Victor sterben wird, auch der Grund, warum eine es überhaupt aushält sein sexistisches, b’soffenes Junggesesellengeschwätz zu lesen. Doch Stella, die ihn als Studentin bei einer Ausgrabung in Griechenland kennenlernt, findet ihn sexuell anziehend und gönnt sich ihr Vergnügen. Ein Jahr später treffen die beiden einander in Finnland wieder. Stella lebt ungezwungen in diesem Dreiecksverhältnis, während Victor nicht ganz weiß, wie ihm geschieht und ob er nun eifersüchtig sein soll oder nicht. Aber dann kommt ihm ohnehin der Tod dazwischen und die Umstände, die dazu führen, sorgen immerhin auch für etwas Spannung. Unkonventionell.

Miina Supinen: Drei ist keiner zu viel. Roman. Aus dem Finnischen von Anke Michler-Janhunen. 299 Seiten, Suhrkamp, Berlin 2014   EUR 15,50

erstmals erschienen in WeiberDiwan 01/2015

Eine Finnin in Prag

simukka_weissWiedersehen mit Lumikki aus „Rot wie Blut“ von Salla Simukka. Lumikki erholt sich von ihren kriminalistischen Abenteuern auf einer Reise ins sommerlich heiße Prag. Sie lässt ihre Gedanken ziehen und erinnert sich immer wieder an den letzten Sommer mit ihrer ersten großen Liebe Flamme, die nicht halten konnte, weil Flamme vom Umgang mit der eigenen Transsexualität so in Anspruch genommen war, dass für eine Beziehung kein Raum blieb.

Doch Lumikki wird aus ihren Gedanken gerissen, als sie eines Tages von einem Mädchen angesprochen wird, das behauptet, ihre Schwester zu sein. Diese Begegnung wirft sie einerseits aus der Bahn, weil immer wieder Erinnerungen an ihre frühe Kindheit auftauchen, in denen noch ein zweites Mädchen vorkommt, andererseits wird sie in dramatische Geschehnisse rund um eine ominöse Sekte hineingezogen, der die vermeintliche Schwester angehört. Recht schnell wird die Situation mehr als bedrohlich und Lumikki gerät erneut in Lebensgefahr.

Ganz reicht der Band nicht an den ersten Band heran, aber das ist auch ein typisches Phänomen beim Mittelband einer Trilogie, es werden immer noch neue Geheimnisse angedeutet, ohne die ersehnte Auflösung – es gilt also auf den abschließenden Band zu warten!

Salla Simukka: So weiß wie Schnee. Roman. Aus dem Finnischen von Elina Kritzokat. 250 Seiten, Arena Verlag, Würzburg 2015     EUR 15,30

erstmals erschienen in WeiberDiwan 01/2015

Durst

itäranta_geschmack_von_wasserWir befinden uns wohl 100 Jahre in der Zukunft. Die Erde ist durch den Klimawandel völlig verändert, große ehemalige Landmassen liegen unter dem Meer, die übrigen Gebiete leiden unter heißen Temperaturen und Wassermangel – auch das Gebiet des heutigen Finnlands. Nach jahrzehntelangen Kriegen und Chaos herrscht eine Art globaler Militärdikatatur. Wasser ist das begehrteste Gut, wer den Zugang zu Wasser kontrolliert, hat alle Macht. Das alles erfahren wir nach und nach im Laufe des Buches. Durch die eindringliche Schilderung des Alltages hat eine spätestens ab Seite 20 einen trockenen Mund und großes Verlangen nach einem Glas Wasser. Die Ich-Erzählerin Noria ist die Tochter eines Teemeisters und einer Wissenschaftlerin. Sie möchte in die Fußstapfen ihres Vaters und dessen Vorfahren treten und die Durchführung der rituellen Teezeremonien übernehmen. Mit der Funktion der Teemeisterin übernimmt sie schließlich auch die Verantwortung über ein Geheimnis, das in ihrer Familie seit Generationen weitergegeben wird und das ihr Leben zwar vordergründig angenehmer und privilegiert, aber vor allem sehr gefährlich macht. Die Frage, wem sie noch trauen kann, ob sie ihrer besten Freundin Sanja noch vertrauen kann, wird bestimmend, denn gemeinsam sind sie einer riesigen Verschwörung auf der Spur. Ein Buch, das unter die Haut geht!

Emmi Itäranta: Der Geschmack von Wasser. Roman. Übersetzt von Anu Stohner. 338 Seiten, dtv, München 2014  EUR 15,40

erstmals erschienen in WeiberDiwan 02/2014

Schneewittchen

simukka_rotLumikki, deren Name auf Finnisch Schneewittchen bedeutet, ist zwar noch Schülerin, hat aber ihre eigene Wohnung seit sie in die Stadt gezogen ist, wo sie eine besondere Kunstschule besucht. Sie ist eine Einzelgängerin, die am besten allein zurecht kommt. Darum ist sie auch alles andere als begeistert, als sie von einigen MitschülerInnen in eine mysteriöse Geschichte hineingezogen wird. Alles beginnt mit einer wilden Party, drogenbeeinflussten Jugendlichen und einem Haufen blutgetränkter Geldscheine, die sie im Schnee finden und in einer absurden Aktion in der Dunkelkammer der Schule reinwaschen. Für reichlich Action ist spätestens gesorgt, als einige Kriminelle Lumikki verdächtigen, das Geld versteckt zu haben und versuchen, sie zu entführen. Für Lumikki bleibt schließlich nur die Flucht nach vorn und sie begibt sich in die Höhle des Löwen, um das Rätsel um das blutige Geld zu lüften. Doch hinter der Fassade des toughen Mädchens stecken traumatische Kindheitserinnerungen, Familiengeheimnisse werden angedeutet und auch von der ersten Liebe blieb nur die Erinnerung an einen Sommer mit der lebenslustigen Eisverkäuferin. Der Spannungsbogen ist mit „So rot wie Blut“ aber erst eröffnet, denn der Band ist Teil Eins einer Trilogie. Clever konsturiert, denn ich zumindest will unbedingt wissen, wer Lumikki wirklich ist und wie es ihr weiterhin ergeht!

Salla Simukka: So rot wie Blut. Thriller. Übersetzt von Elina Kritzokat. 281 Seiten, Arena, Würzburg 2014        EUR 15,50

erstmals erschienen in WeiberDiwan 02/2014

Finnische Vielfalt

Helsinki07 049Die Frankfurter Buchmesse ist vorbei. Finnland wieder in weite Ferne gerückt. Geblieben sind die zahlreichen Klischees, die über das diesjährige Gastland medial breit und breiter getreten wurden. Aber zu beobachten war auch, dass über besonders viele Autorinnen berichtet wurde, während kaum ein Autor im Gedächtnis blieb. nordstein hat ausgewählte Neuerscheinungen aus Finnland gelesen und versucht einen Blickwinkel ohne Sauna, PISA-Test und schrullige Schweigsamkeit zu finden.

Finnlands Geschichte ist geprägt von der abwechselnden Vorherrschaft der beiden Nachbarn Schweden und Russland, was auch seine Kultur beeinflusste. Schwedisch ist neben Finnisch immer noch zweite Amtssprache. Obwohl die finnlandschwedische Bevölkerung einen Anteil von nur knapp sechs Prozent an der Gesamtbevölkerung hat, ist die literarische Produktion rege. Finnische Belletristik wird erst seit etwa 150 Jahren überhaupt verlegt, hat sich inzwischen aber zu einer großen Vielfalt entwickelt. Heute gibt es in Finnland 3.500 Verlage, die jährlich etwa 4.500 Titel auflegen. Lesen hat einen hohen Stellenwert, das öffentliche Bibliothekssystem ist bestens ausgebaut. Angeblich werden in Finnland 17 Bücher pro Kopf und Jahr gelesen (optimistische Schätzungen für Österreich sprechen von elf).

Finnische Literatur gilt jedoch als schwer zugänglich, weil schwer zu übersetzen. Finnisch gehört zur finno-ugrischen Sprachfamilie und unterscheidet sich in Grammatik (15 Fälle!) und Syntax grundlegend von den indo-europäischen Sprachen. Im Zusammenhang mit dem mit der Buchmesse einhergehenden Hype an Neuerscheinungen und Übersetzungen wurde auch deren Qualität bemängelt. Interessant ist angesichts der Binnen-I-Diskussionen in Österreich die Tatsache, dass das Finnische kein grammatikalisches Geschlecht kennt. Was im Falle von Übersetzungen schon mal Fragen aufwirft, wenn zum Beispiel die Handlung eines Romans eine nicht näher benannte Angebete andeutet, auf die dann plötzlich mit maskulinen Pronomina verwiesen wird.

Gefeierte AutorinnenFinnland_01

In den Berichten zur Buchmesse kommen auffällig viele Frauen prominent vor. Vielleicht auch deshalb, weil einige optisch auffällige Frauen darunter sind. So zum Beispiel die Bestsellerautorin Sofi Oksanen, die sich in Interviews verwundert zeigte, im deutschsprachigen Raum andauernd auf ihr Äußeres angesprochen zu werden, in Finnland sei das nicht der Fall. Verwunderung äußerte sie auch über sexistische Werbung an allen Ecken und darüber, dass Boulevardzeitungen hierzulande immer noch eine Seite-Fünf-Nackte drucken. Ihr aktuelles Buch „Als die Tauben verschwanden“ beschäftigt sich wie ihr großer Erfolg „Fegefeuer“ mit der Geschichte Estlands.

Die hierzulande wohl bekannteste finnische Autorin wäre heuer 100 Jahre alt geworden – Tove Jansson, die Schöpferin der Mumins. Ihrem Leben und umfassenden Werk als Malerin, Autorin und Comiczeichnerin ist in dieser Ausgabe ein eigenes Porträt gewidmet. Im deutschsprachigen Raum wurden die Mumins besonders durch verschiedene Fernsehadaptionen mehreren Generationen von Kindern zugänglich.

Neue Frauenbewegung

Anfang der 1980er Jahre gewann mit Märta Tikkanen eine weitere, ebenfalls schwedisch schreibende Autorin aus Finnland einige Aufmerksamkeit und wurde in der Neuen Frauenbewegung interessiert rezipiert. In ihrem Buch „Wie vergewaltige ich einen Mann“ (orig. „Män kan inte våldtas“, dt. „Männer kann man nicht vergewaltigen“) bricht sie das Tabuthema Vergewaltigung gleich zweifach. Zum ersten, indem sie überhaupt darüber schreibt, und zum zweiten, indem sie eine vergewaltigte Frau zur Rächerin werden lässt, die ihrem Peiniger ebenfalls sexuelle Gewalt antut.

siekkinen_wieliebeentstehtWie ein Nachklang der Neuen Frauenbewegung liest sich der Erzählband „Wie Liebe entsteht“ von Raija Siekkinen. Im Original sind die preisgekrönten Erzählungen bereits 1991 erschienen. Thematisch kreisen die Geschichten um Paarbeziehungen, Ehe, Betrug, Gewalt. Im Mittelpunkt steht jeweils eine Frau. In „Ein natürlicher Tod“ trauert eine Frau mittleren Alters um ihren Mann, was eine jüngere mit ihrer Einstellung zu Beziehungen allgemein und ihrer eigenen im Speziellen konfrontiert. In „Eine Erfahrung“ kämpft eine Studentin, über eine versuchte Vergewaltigung hinwegzukommen. In der titelgebenden Erzählung „Wie Liebe entsteht“ erfahren wir entgegen dem Titel, wie Liebe manchmal lange unbemerkt vergeht. Obwohl die Erzählstücke recht kurz sind, schafft die Autorin mit wenigen Worten eine sehr authentische, nachvollziehbare Stimmung. Durch knappe Andeutungen erfahren wir vom bisherigen Leben der Protagonistinnen. Eingeflochtene Erinnerungen stellen einen Bezug zwischen einem Jetzt und einem Damals her, eine Spannung an einem Punkt im Leben, wo es gilt, eine Entscheidung für die Zukunft zu fällen oder auch das Momentane zu akzeptieren.

Zur älteren Generation der Autorinnen gehört auch  Ulla-Lena Lundberg, die lundberg_eisseit mehr als fünfzig Jahren schreibt. Sie stammt von den zwischen Finnland und Schweden liegenden Åland-Inseln, die rein schwedischsprachig zu Finnland gehören, aber mit umfassenden Autonomierechten ausgestattet sind, einschließlich Ausnahmen im Zollverkehr, was nach wie vor einträgliche Dutyfree-Geschäfte ermöglicht. In ihren Romanen beschäftigte sich Lundberg immer wieder ausführlich mit der Geschichte und den Lebensbedingungen Ålands. Für „Eis“, ihren ersten auf Deutsch erschienenen Roman, erhielt sie mit dem Finlandia-Preis eine hohe Auszeichnung. Der Roman beschreibt das Leben der Inselwelt in den späten 1940er Jahren. Ein Leben sehr nah an den Naturgewalten, wo man auf den entlegenen Inseln stark auf sich gestellt war. Im Zentrum steht eine junge Pastorsfamilie, die als Zugezogene ihren Platz in der Inselgemeinschaft sucht und findet. Doch das Leben dort ist hart und Glück und Frieden sind nicht von Dauer. Für Liebhaberinnen schöner Bücher auch aufgrund des sehr gelungenen Covers ein Fundstück.

Vorbild Finnland

Finnland gilt gemeinsam mit den anderen skandinavischen Ländern als Vorzeigebeispiel für gelungene Gleichstellungspolitik. Eine sehr hohe Frauenbeschäftigungsquote bei gleichzeitig hoher Geburtenrate ist auf gute soziale Absicherung und einen Rechtsanspruch auf Kinderbetreuungsplätze zurückzuführen. Der Frauenanteil in politischen Institutionen ist hoch. Finnland war 1906 das erste Land, in dem Frauen das aktive und passive Wahlrecht erhielten.

Wie die Realität trotz wunderbarer Statistiken in Finnland aussieht, spiegelt sich freilich eindrücklich in der Literatur. Ganz im skandinavischen Trend gesellschaftskritischer Kriminalliteratur steht etwa Leena Lehtolainen, deren Bücher zeitnah immer auch auf Deutsch erscheinen.

In der ebenfalls sehr bewegten Jugendliteraturszene sticht Salla Simukka hervor, von der heuer der erste Band einer Thrillertrilogie mit dem Titel „So rot wie Blut“ auf Deutsch erschienen ist. Die weiteren Bände sollen demnächst folgen. Neben einer soliden spannenden Krimihandlung (Mord, Prostitution, Korruption, Mafia) überzeugt vor allem die vielschichtige Hauptfigur Lumikki (dt. Schneewittchen), deren Identitätsfindung, Traumaverarbeitung, Liebeszweifel atemlos auf den nächsten Band warten machen.

Finnisch seltsam

sinisalo_finnisches_feuerSeltsamen Charakterzuschreibungen, die im Ausland Finnland allgemein und seinen Kulturschaffenden im Speziellen angedeihen, treten einige junge LiteratInnen offensiv entgegen, indem sie ihre genremäßig schwer greifbaren Werke als „Finnish Weird“ labeln. Geprägt hat den Begriff Johanna Sinisalo, deren Buch „Finnisches Feuer“ dem absolut entspricht. Der deutsche Titel ist leider ziemlich daneben, das Original heißt „Sonnenkern“, was auf die schärfste Chilizüchtung der Welt, so heiß wie der Kern der Sonne, anspielt. Chili ist in Sinisalos dystopischer Welt die angesagteste Droge. Alkohol, Nikotin, selbst Koffein sind verboten und auch am Schwarzmarkt kaum erhältlich. Doch das wirklich Kranke in dieser auf Gesundheit optimierten Welt ist die genetische Veränderung aller weiblichen Kinder in Richtung allgemeiner Schönheitsnormen und die Erziehung der Mädchen zu uniformen dümmlichen Tussis, deren Namen alle auf -anna enden und deren einziger Lebenszweck es ist, mit 14 auf den Heiratsmarkt zu kommen. In einer collagenartigen Zusammenstellung unterschiedlicher Textsorten konstruiert Sinisalo diese Welt und erzählt gleichzeitig die Geschichte zweier ungleicher Schwestern, die auf ganz unterschiedliche Art zugrunde zu gehen drohen. Schwere Kost.

Ebenfalls zum Genre „Finnish Weird“ zu rechnen ist Emmi Itäranta, die in einer an Jugendliche adressierten Geschichte „Der Geschmack von Wasser“ eine ganz andere, aber auch beklemmende Dystopie entwirft.
So unterschiedlich die hier referierten Bücher, so lang ist die Liste derjenigen, die hier noch nicht genannt wurden. Für alle, die noch nicht genug haben, lohnt sich die Suche nach Leena Lander, Monika Fagerholm, Edith Södergran, Anna-Leena Härkönen, Johanna Holmström und Rosa Liksom – oder auch nach den wenigen auf Deutsch erhältlichen samischen Lyrikerinnen, denen auch Aufmerksamkeit gebührt, wie Inger-Mari Aikio-Arianaick oder Rauni Magga Lukkari.

Raija Siekkinen: Wie Liebe entsteht. Erzählungen. Übersetzt von Elina Kritzokat. 176 Seiten, Dörlemann, Zürich 2014 EUR 17,40

Ulla-Lena Lundberg: Eis. Roman. Übersetzt von Karl-Ludwig Wetzig. 527 Seiten, mareverlag, Hamburg 2014 EUR 24,70

Salla Simukka: So rot wie Blut. Thriller. Übersetzt von Elina Kritzokat. 281 Seiten, Arena, Würzburg 2014 EUR 15,50

Emmi Itäranta: Der Geschmack von Wasser. Roman. Übersetzt von Anu Stohner. 338 Seiten, dtv, München 2014 EUR 15,40

Johanna Sinisalo: Finnisches Feuer. Roman. Übersetzt von Stefan Moster. 318 Seiten, Tropen – Klett Cotta, Stuttgart 2014 EUR 22,60

erstmals erschienen in WeiberDiwan 02/2014