Finnische Vielfalt

Helsinki07 049Die Frankfurter Buchmesse ist vorbei. Finnland wieder in weite Ferne gerückt. Geblieben sind die zahlreichen Klischees, die über das diesjährige Gastland medial breit und breiter getreten wurden. Aber zu beobachten war auch, dass über besonders viele Autorinnen berichtet wurde, während kaum ein Autor im Gedächtnis blieb. nordstein hat ausgewählte Neuerscheinungen aus Finnland gelesen und versucht einen Blickwinkel ohne Sauna, PISA-Test und schrullige Schweigsamkeit zu finden.

Finnlands Geschichte ist geprägt von der abwechselnden Vorherrschaft der beiden Nachbarn Schweden und Russland, was auch seine Kultur beeinflusste. Schwedisch ist neben Finnisch immer noch zweite Amtssprache. Obwohl die finnlandschwedische Bevölkerung einen Anteil von nur knapp sechs Prozent an der Gesamtbevölkerung hat, ist die literarische Produktion rege. Finnische Belletristik wird erst seit etwa 150 Jahren überhaupt verlegt, hat sich inzwischen aber zu einer großen Vielfalt entwickelt. Heute gibt es in Finnland 3.500 Verlage, die jährlich etwa 4.500 Titel auflegen. Lesen hat einen hohen Stellenwert, das öffentliche Bibliothekssystem ist bestens ausgebaut. Angeblich werden in Finnland 17 Bücher pro Kopf und Jahr gelesen (optimistische Schätzungen für Österreich sprechen von elf).

Finnische Literatur gilt jedoch als schwer zugänglich, weil schwer zu übersetzen. Finnisch gehört zur finno-ugrischen Sprachfamilie und unterscheidet sich in Grammatik (15 Fälle!) und Syntax grundlegend von den indo-europäischen Sprachen. Im Zusammenhang mit dem mit der Buchmesse einhergehenden Hype an Neuerscheinungen und Übersetzungen wurde auch deren Qualität bemängelt. Interessant ist angesichts der Binnen-I-Diskussionen in Österreich die Tatsache, dass das Finnische kein grammatikalisches Geschlecht kennt. Was im Falle von Übersetzungen schon mal Fragen aufwirft, wenn zum Beispiel die Handlung eines Romans eine nicht näher benannte Angebete andeutet, auf die dann plötzlich mit maskulinen Pronomina verwiesen wird.

Gefeierte AutorinnenFinnland_01

In den Berichten zur Buchmesse kommen auffällig viele Frauen prominent vor. Vielleicht auch deshalb, weil einige optisch auffällige Frauen darunter sind. So zum Beispiel die Bestsellerautorin Sofi Oksanen, die sich in Interviews verwundert zeigte, im deutschsprachigen Raum andauernd auf ihr Äußeres angesprochen zu werden, in Finnland sei das nicht der Fall. Verwunderung äußerte sie auch über sexistische Werbung an allen Ecken und darüber, dass Boulevardzeitungen hierzulande immer noch eine Seite-Fünf-Nackte drucken. Ihr aktuelles Buch „Als die Tauben verschwanden“ beschäftigt sich wie ihr großer Erfolg „Fegefeuer“ mit der Geschichte Estlands.

Die hierzulande wohl bekannteste finnische Autorin wäre heuer 100 Jahre alt geworden – Tove Jansson, die Schöpferin der Mumins. Ihrem Leben und umfassenden Werk als Malerin, Autorin und Comiczeichnerin ist in dieser Ausgabe ein eigenes Porträt gewidmet. Im deutschsprachigen Raum wurden die Mumins besonders durch verschiedene Fernsehadaptionen mehreren Generationen von Kindern zugänglich.

Neue Frauenbewegung

Anfang der 1980er Jahre gewann mit Märta Tikkanen eine weitere, ebenfalls schwedisch schreibende Autorin aus Finnland einige Aufmerksamkeit und wurde in der Neuen Frauenbewegung interessiert rezipiert. In ihrem Buch „Wie vergewaltige ich einen Mann“ (orig. „Män kan inte våldtas“, dt. „Männer kann man nicht vergewaltigen“) bricht sie das Tabuthema Vergewaltigung gleich zweifach. Zum ersten, indem sie überhaupt darüber schreibt, und zum zweiten, indem sie eine vergewaltigte Frau zur Rächerin werden lässt, die ihrem Peiniger ebenfalls sexuelle Gewalt antut.

siekkinen_wieliebeentstehtWie ein Nachklang der Neuen Frauenbewegung liest sich der Erzählband „Wie Liebe entsteht“ von Raija Siekkinen. Im Original sind die preisgekrönten Erzählungen bereits 1991 erschienen. Thematisch kreisen die Geschichten um Paarbeziehungen, Ehe, Betrug, Gewalt. Im Mittelpunkt steht jeweils eine Frau. In „Ein natürlicher Tod“ trauert eine Frau mittleren Alters um ihren Mann, was eine jüngere mit ihrer Einstellung zu Beziehungen allgemein und ihrer eigenen im Speziellen konfrontiert. In „Eine Erfahrung“ kämpft eine Studentin, über eine versuchte Vergewaltigung hinwegzukommen. In der titelgebenden Erzählung „Wie Liebe entsteht“ erfahren wir entgegen dem Titel, wie Liebe manchmal lange unbemerkt vergeht. Obwohl die Erzählstücke recht kurz sind, schafft die Autorin mit wenigen Worten eine sehr authentische, nachvollziehbare Stimmung. Durch knappe Andeutungen erfahren wir vom bisherigen Leben der Protagonistinnen. Eingeflochtene Erinnerungen stellen einen Bezug zwischen einem Jetzt und einem Damals her, eine Spannung an einem Punkt im Leben, wo es gilt, eine Entscheidung für die Zukunft zu fällen oder auch das Momentane zu akzeptieren.

Zur älteren Generation der Autorinnen gehört auch  Ulla-Lena Lundberg, die lundberg_eisseit mehr als fünfzig Jahren schreibt. Sie stammt von den zwischen Finnland und Schweden liegenden Åland-Inseln, die rein schwedischsprachig zu Finnland gehören, aber mit umfassenden Autonomierechten ausgestattet sind, einschließlich Ausnahmen im Zollverkehr, was nach wie vor einträgliche Dutyfree-Geschäfte ermöglicht. In ihren Romanen beschäftigte sich Lundberg immer wieder ausführlich mit der Geschichte und den Lebensbedingungen Ålands. Für „Eis“, ihren ersten auf Deutsch erschienenen Roman, erhielt sie mit dem Finlandia-Preis eine hohe Auszeichnung. Der Roman beschreibt das Leben der Inselwelt in den späten 1940er Jahren. Ein Leben sehr nah an den Naturgewalten, wo man auf den entlegenen Inseln stark auf sich gestellt war. Im Zentrum steht eine junge Pastorsfamilie, die als Zugezogene ihren Platz in der Inselgemeinschaft sucht und findet. Doch das Leben dort ist hart und Glück und Frieden sind nicht von Dauer. Für Liebhaberinnen schöner Bücher auch aufgrund des sehr gelungenen Covers ein Fundstück.

Vorbild Finnland

Finnland gilt gemeinsam mit den anderen skandinavischen Ländern als Vorzeigebeispiel für gelungene Gleichstellungspolitik. Eine sehr hohe Frauenbeschäftigungsquote bei gleichzeitig hoher Geburtenrate ist auf gute soziale Absicherung und einen Rechtsanspruch auf Kinderbetreuungsplätze zurückzuführen. Der Frauenanteil in politischen Institutionen ist hoch. Finnland war 1906 das erste Land, in dem Frauen das aktive und passive Wahlrecht erhielten.

Wie die Realität trotz wunderbarer Statistiken in Finnland aussieht, spiegelt sich freilich eindrücklich in der Literatur. Ganz im skandinavischen Trend gesellschaftskritischer Kriminalliteratur steht etwa Leena Lehtolainen, deren Bücher zeitnah immer auch auf Deutsch erscheinen.

In der ebenfalls sehr bewegten Jugendliteraturszene sticht Salla Simukka hervor, von der heuer der erste Band einer Thrillertrilogie mit dem Titel „So rot wie Blut“ auf Deutsch erschienen ist. Die weiteren Bände sollen demnächst folgen. Neben einer soliden spannenden Krimihandlung (Mord, Prostitution, Korruption, Mafia) überzeugt vor allem die vielschichtige Hauptfigur Lumikki (dt. Schneewittchen), deren Identitätsfindung, Traumaverarbeitung, Liebeszweifel atemlos auf den nächsten Band warten machen.

Finnisch seltsam

sinisalo_finnisches_feuerSeltsamen Charakterzuschreibungen, die im Ausland Finnland allgemein und seinen Kulturschaffenden im Speziellen angedeihen, treten einige junge LiteratInnen offensiv entgegen, indem sie ihre genremäßig schwer greifbaren Werke als „Finnish Weird“ labeln. Geprägt hat den Begriff Johanna Sinisalo, deren Buch „Finnisches Feuer“ dem absolut entspricht. Der deutsche Titel ist leider ziemlich daneben, das Original heißt „Sonnenkern“, was auf die schärfste Chilizüchtung der Welt, so heiß wie der Kern der Sonne, anspielt. Chili ist in Sinisalos dystopischer Welt die angesagteste Droge. Alkohol, Nikotin, selbst Koffein sind verboten und auch am Schwarzmarkt kaum erhältlich. Doch das wirklich Kranke in dieser auf Gesundheit optimierten Welt ist die genetische Veränderung aller weiblichen Kinder in Richtung allgemeiner Schönheitsnormen und die Erziehung der Mädchen zu uniformen dümmlichen Tussis, deren Namen alle auf -anna enden und deren einziger Lebenszweck es ist, mit 14 auf den Heiratsmarkt zu kommen. In einer collagenartigen Zusammenstellung unterschiedlicher Textsorten konstruiert Sinisalo diese Welt und erzählt gleichzeitig die Geschichte zweier ungleicher Schwestern, die auf ganz unterschiedliche Art zugrunde zu gehen drohen. Schwere Kost.

Ebenfalls zum Genre „Finnish Weird“ zu rechnen ist Emmi Itäranta, die in einer an Jugendliche adressierten Geschichte „Der Geschmack von Wasser“ eine ganz andere, aber auch beklemmende Dystopie entwirft.
So unterschiedlich die hier referierten Bücher, so lang ist die Liste derjenigen, die hier noch nicht genannt wurden. Für alle, die noch nicht genug haben, lohnt sich die Suche nach Leena Lander, Monika Fagerholm, Edith Södergran, Anna-Leena Härkönen, Johanna Holmström und Rosa Liksom – oder auch nach den wenigen auf Deutsch erhältlichen samischen Lyrikerinnen, denen auch Aufmerksamkeit gebührt, wie Inger-Mari Aikio-Arianaick oder Rauni Magga Lukkari.

Raija Siekkinen: Wie Liebe entsteht. Erzählungen. Übersetzt von Elina Kritzokat. 176 Seiten, Dörlemann, Zürich 2014 EUR 17,40

Ulla-Lena Lundberg: Eis. Roman. Übersetzt von Karl-Ludwig Wetzig. 527 Seiten, mareverlag, Hamburg 2014 EUR 24,70

Salla Simukka: So rot wie Blut. Thriller. Übersetzt von Elina Kritzokat. 281 Seiten, Arena, Würzburg 2014 EUR 15,50

Emmi Itäranta: Der Geschmack von Wasser. Roman. Übersetzt von Anu Stohner. 338 Seiten, dtv, München 2014 EUR 15,40

Johanna Sinisalo: Finnisches Feuer. Roman. Übersetzt von Stefan Moster. 318 Seiten, Tropen – Klett Cotta, Stuttgart 2014 EUR 22,60

erstmals erschienen in WeiberDiwan 02/2014

Island der Schriftstellerinnen

Island war 2011 als erstes skandinavisches Land Gastland der Frankfurter Buchmesse, was besonders viele isländische Neuerscheinungen, islandbezogene Veranstaltungen und Presseberichte mit sich brachte. 89 belletristische Titel erschienen zwischen Herbst 2010 und Herbst 2011 neu auf Deutsch. 25 davon stammen von Autorinnen, das sind gerade einmal 28 Prozent. Erfreulicherweise waren aber viele Autorinnen persönlich auf der Messe vertreten.

100_4136Island ist ein Land der Superlative, was damit beginnt, dass es sich um das geologisch jüngste Land der Erde handelt und damit aufhört, dass pro Kopf nur die US-Amerikaner*innen mehr Strom verbrauchen. Auch Frauen in der Politik werden immer wieder als Rekordhalter*innen dargestellt: Vigdís Finnbogadóttir war 1980 das erste gewählte weibliche Staatsoberhaupt, 1983 wurde die Frauenallianz als weltweit erste feministische Partei ins Althing gewählt und derzeit führt Jóhanna Sigurðardóttir als erste offen lesbische Premierministerin die Regierungsgeschäfte, was bedeutet, dass sie dafür verantwortlich ist, das nach dem Bankencrash 2007 schwer angeschlagene Land aus der Krise zu führen.

In der Literaturbranche rühmt man sich auch mit Weltrekorden. Gemessen an einer Gesamtbevölkerung von nur 320.000 Personen zeigt die Insel knapp südlich des Polarkreises mit jährlich 1.500 Neuerscheinungen in 42 Verlagen eine starke literarische Szene. Im Schnitt kaufen Isländer*innen acht Bücher im Jahr. Schriftsteller*innen können – so wie andere Künstler*innen – ein staatliches Gehalt beziehen, wenn sie bereits eine bestimmte Anzahl von Veröffentlichungen nachweisen. Ähnliche Voraussetzung gelten auch für eine Aufnahme in die isländische Schriftstellergewerkschaft. Nur ein Drittel der Mitglieder und ein Drittel der Autor*innen, die vom Schreiben leben können, sind allerdings Frauen, was deutlich macht, dass es auch in Island strukturelle Hindernisse für Frauen gibt, um am Buchmarkt zu reüssieren.

Bei den Übersetzungen ins Deutsche sinkt der Anteil von Autorinnen wie eingangs erwähnt noch etwas. Während die erfolgreichsten Autorinnen auf der Frankfurter Buchmesse gut vertreten sind, werden sie in der medialen Wahrnehmung oft ignoriert: Der Standard erwähnt in drei Seiten Text zur Buchmesse 17 Autor*innen namentlich, davon drei Frauen; im Kurier werden acht isländische Neuerscheinungen empfohlen, eines davon von einer Frau; in der Falterbuchbeilage: keine einzige isländische Autorin.

Erzähltraditionen

Weibliches Erzählen hat in Island eine weit zurückreichende Tradition. Die 100_4111mündliche Überlieferung von Dichtung in altnordischer Zeit folgte Formen wie Visionen, Zauberformeln, Arbeitsliedern, Klagegesängen oder Heilungsgedichten und wurde oft von Frauen weitergeben. Schriftlich erhalten ist die Liederedda, deren Texte zumindest zum Teil aus der Zeit vor dem 10. Jahrhundet stammen dürften, auch wenn sie erst später niedergeschrieben wurden. Diese Schilderungen von fantastischen mythologischen Figuren, übernatürlichen Erscheinungen und Heldentaten enthalten viele Anknüpfungspunkte an die Erfahrungswelt von Frauen der Wikingerzeit und geben Frauen in Form von Monologen auch eine Stimme. Aber mit der Christianisierung, den ersten (Kloster-)Schulen und der Verschriftlichung wurde Literatur zu einem männerdominierten Bereich.

In der modernen isländischen Literatur lassen sich trotz aller Diversität ein paar wiederkehrende Motive ausmachen: die karge, raue Natur und die imposante Landschaft mit Gletschern, eisigem Meer und heißen Quellen spielen in vielen Publikationen eine Rolle; ähnliches gilt für übernatürliche Erscheinungen, die sowohl aus den Liedern der Edda als auch den reichen Volksmärchen bekannt sind und bis heute Einfluss haben. Diese Motive zeigen sich in unterschiedlicher Ausprägung auch in den folgenden aus verschiedenen Genres ausgewählten Beispielen.

Kristín Steinsdóttir

In Kristín Steinsdóttirs Roman „Im Schatten des Vogels“ sind beide genannten Motive von Bedeutung. Es geht um die Geschichte Ljósas, die Ende des 19. Jahrhunderts auf einem einsamen Bauernhof aufwächst. Die Geschichten der alten Magd Kristbjörg sind genauso alltäglich für sie, wie der Brauch, der „Hauselfe“ etwas Milch zu bringen, um sie milde zu stimmen. Ljósa ist der Natur mit all ihren unsichtbaren Bewohner*innen stark verbunden. Als sie heranwächst, verliebt sie sich in einen jungen Mann, doch der Vater verbietet die Verbindung und schickt sie auf eine Mädchenschule nach Reykjavík. Trotzdem es immer Ljósas Wunsch gewesen war, etwas von der Welt zu sehen, und sie jetzt nähen und sogar Harmonium spielen darf, gleitet sie immer tiefer in die Depression. Nach einem Jahr kehrt sie zurück in die Herkunftsregion und heiratet einen Zimmermann. Die Spannungen zwischen ihrem Mann und ihrem Vater stürzen sie in innere Konflikte, für die ihr aber nach beinahe jährlichen Schwangerschaften und Geburten bald keine Kraft mehr bleibt. Lange Zeit wirkt sie einfach exzentrisch und widerspenstig, doch mit den Jahren manifestiert sich eine manisch-depressive Störung, für die sie keine adäquate Behandlung bekommt. Kristín Steinsdóttir schrieb diesen Roman in Anlehnung an das Schicksal ihrer Großmutter; um Milieu und Umstände des bäuerlichen Lebens im 19. Jahrhundert realistisch darstellen zu können, hat die für ihre Kinderbücher bereits preisgekrönte Autorin viele Jahre lang recherchiert. Die Figur der Ljósa ist mit viel Einfühlungsvermögen und Sympathie dargestellt; durch die Erzählung in der ersten Person sehen wir die Welt durch ihre Augen – so auch die damals weit verbreitete Methode, psychisch kranke Personen in eine „Narrenkiste“ einzusperren. Eine grausame Methode, doch, wie die Autorin sagt, ebenso eine „Maßnahme der Verzweiflung“ eines völlig überforderten Umfeldes.

Kristín Steinsdóttir: Im Schatten des Vogels. Roman. Übersetzt von Anika Lüders. 252 Seiten, C.H.Beck, München 2011      EUR 20,60

Yrsa Sigurðardóttir

Auch Yrsa Sigurðardóttir begann ihre Karriere als Kinderbuchautorin, wechselte dann aber ins Krimigenre, in dem sie auch im Ausland bekannt wurde. In ihrem neuesten Thriller „Geisterfjord“ kommt es in einem einsamen Fjord zu gespenstischen Begegnungen, die einer schon mal schlaflose Nächte bescheren können. Spurlos verschwundene Kinder sind als Krimithema schon gruselig genug, aber wenn sie dann auch noch als Geister wiederkehren! Die Verbindung außergewöhnlicher Umstände (völlige Isolation von der modernen Umwelt) mit psychischem Druck lassen die Grenzen zwischen materieller Wirklichkeit und Einbildung verschwimmen – so hofft die Leserin mit den Protagonist*innen, die sich wünschen, das was sie erleben seien nur Halluzinationen.

Yrsa Sigurðardóttir: Geisterfjord. Thriller. Übersetzt von Tina Flecken. 358 Seiten, Fischer Taschenbuch, Frankfurt/Main 2011        EUR 9,30

Steinunn Sigurðardóttir

Ganz ohne Übersinnliches kommt hingegen Steinunn Sigurðardóttir in „Der gute Liebhaber“ aus. In sehr nüchternem, klaren Stil schreibt sie eine anfangs märchenhaft anmutende Geschichte von Karl, der, nachdem er in den USA ein erfolgreicher Geschäftsmann geworden ist, nach Island kommt, um seine Jugendliebe zu entführen – was ihm dank einer Reihe ziemlich unwahrscheinlicher Zufälle auch gelingt. Ein Leben lang hatte er sich nach Una verzehrt; keine seiner zahlreichen Geliebten, fast alle äußerlich perfekt, konnten ihn über seinen Verlust trösten. Er hält sich für einen „guten Liebhaber“, der eine Frau perfekt befriedigen kann. Er selbst „verzichtet“ dabei auf den Orgasmus. Doch gerade als sich das Märchen mit Una zu erfüllen scheint, erinnert Karl sich an Doreen, eine der weniger perfekten Geliebten, die hinter seine Fassade blickte, die ihn mit seiner Masche des perfekten Liebhabers nicht so einfach davon kommen ließ, und ihn dadurch gleichzeitig abstieß und anzog.

Steinunn Sigurðardóttir: Der gute Liebhaber. Roman. Übersetzt von Coletta Bürling. 223 Seiten, Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 2011            EUR 18,50

Kristín Marja Baldursdóttir

Eine Autorin, die von sich sagt: „Gleichberechtigung war meine Vision als ich mit dem Schreiben begann“, ist Kristín Marja Baldursdóttir. Im deutschsprachigen Raum wurde sie 2001 mit „Möwengelächter“ bekannt, das später auch verfilmt wurde. Ihre älteren Romane sind gerade als Taschenbücher neu aufgelegt worden. Neu erschienen ist der Roman „Sterneneis“, der eine 14-Jährige und eine Frau in den 50ern in ein einsames Ferienhaus ohne Strom und damit ohne Handy, Internet und Fernsehen verschlägt, wo sie ein ganzes Wochenende zusammen verbringen. Sie finden einen Draht zueinander, als die Ältere beginnt, der Jüngeren Geschichten aus ihrem Leben zu erzählen.

Kristín Marja Baldursdóttir: Sterneneis. Roman. Übersetzt von Ursula Giger. 240 Seiten, Krüger Verlag, 2011   EUR 17,50

Es bleibt zu hoffen, dass das Interesse an isländischer Literatur auch nach der Buchmesse weiter anhält. Ob historisch oder gegenwärtig, ob übersinnlich oder ganz ohne Elfen und Trolle. Die isländische Literatur hat viel zu bieten. Kein Wunder, dass die Isländer*innen so gerne lesen.

erstmals erschienen in WeiberDiwan 02/2011