Erbarmungslos

Nachdem gerade erst vor einem Jahr mit „DNA“ eine neue Krimiserie der Isländerin Yrsa Sigurdardóttir auf Deutsch startete, können wir uns schon über den zweiten Band „SOG“ freuen. Das heißt, freuen ist so eine Sache. Nach den grausamen Morden in „DNA“ werden wir diesmal mit der zehn Jahre zurückliegenden Vergewaltigung und dem Mord an einer Schülerin konfrontiert. In einer Zeitkapsel wird eine Liste von Initialen gefunden, die Menschen auflistet, die nun zur Rechenschaft gezogen werden sollen. Da dauert es auch nicht lange, bis erste Leichenteile auftauchen. Alles sehr grauslich und nichts für sensible Gemüter. Doch der nach den Ereignissen in „DNA“ degradierte Polizist Huldar und die Kinderpsychologin Freyja, die ebenfalls ihre leitende Stelle verloren hat, leisten wieder gute Arbeit und treten dabei auch Vertretern besserer Kreise auf die Zehen. Und vielleicht klappt es dann ja doch noch mal mit einer liebevollen Annäherung zwischen den beiden. Für harte Krimifans ein Fall aus dem eiskalten Norden.

Yrsa Sigurdardóttir: SOG. Aus dem Isländ. von Tina Flecken. 444 Seiten, btb, München 2017 EUR 20,60

erstmals erschienen in WeiberDiwan 02/2017

Hoffnung

Reykjavík Ende des 19. Jahrhunderts. Guðfinna arbeitet als Tagelöhnerin, meist als Wäscherin oder Kohlenträgerin, und wohnt zusammen mit mehreren anderen in einer kleinen Hütte. Ihre Herkunftsfamilie wurde nach dem Tod des Vaters auf dem Meer in alle Winde zerschlagen. Eine Zeit lang arbeitete sie als Magd auf dem Land. Doch viele junge Mädchen in einer ähnlichen Lage träumen von der Stadt und einer Anstellung in einem feinen Haushalt. Gemeinsam mit ihrer Freundin Stefanía machte sie sich auf den Weg. Glamourös ist es nicht, das Stadtleben, und die Vorstellung von einer „feinen“ Anstellung wird bald abgelöst von den Erzählungen über sexuellen Missbrauch durch die „feinen“ Herren. Als Tagelöhnerinnen fühlen sie sich vergleichsweise frei, schleppen bei Wind und Schneefall die Schmutzwäsche über gefährliche Felspfade zu den heißen Quellen. Sie machen Bekanntschaft mit Liebe, Freundschaft und Zusammenhalt, aber auch mit Krankheit, Armut und Tod. Was bleibt, ist die Hoffnung auf eine bessere Zukunft und die unglaubliche Kraft, die die Frauenfiguren in diesem Roman ausstrahlen. Poetisch und kraftvoll erzählt. Große Leseempfehlung!

Kristín Steinsdóttir: Hoffnungsland. Aus dem Isländ. von Anika Wolff. 216 Seiten, Verlag C. H. Beck, München 2017EUR 20,60

erstmals erschienen in WeiberDiwan 01/2017

Mord in Island

Lesenachschub gibt es aus der isländischen Thrillerszene. Yrsa Sigurðardóttir, die im Hauptberuf als Ingenieurin Kraftwerksprojekte leitet, hat mit „DNA“ den ersten Band einer geplanten Reihe vorgelegt, die sich um das Ermittlungsduo von Kinderpsychologin Freyja und Kriminalkommissar Huldar drehen. Nach einem bestialischen Mord – mit einem Staubsauger, nach Jahrzehnten an Krimiboom wird es zunehmend schwieriger in dieser Hinsicht originell zu sein – bei dem ein Kind Zeugin wurde, treffen die beiden bei der Befragung zusammen. Und wie das auf Island so ist, kennt jede quasi jeden, in diesem Fall von einem One-Night-Stand, bei dem beide nicht ganz die Wahrheit von sich erzählt haben. Neben den Ermittlungen in einer sich zur Mordserie auswachsenden Kette von Ereignissen, die in der Vergangenheit ihren Ursprung haben, gibt es also auch genug privaten Zündstoff, der in den folgenden Bänden wohl seine Fortsetzung finden wird. Solide Krimihandlung, sympathische Charaktere, so geht Islandkrimi.

Yrsa Sigurðardóttir: DNA. Aus dem Isländ. von Anika Wolff. 480 Seiten, btb, München 2016EUR 20,60

erstmals erschienen in WeiberDiwan 01/2017

Freundinnen

bjoerk_nicht_mein_typSo ganz greifbar ist die Insel im äußersten Norden Europas ja nicht, und die – umfassende, wunderbare – Literatur Islands macht es dann oft noch mysteriöser.

Doch in diesem Roman von Björg Magnúsdóttir erleben wir ein Stück Alltagskultur, einen Blick ins Leben von vier Freundinnen Mitte zwanzig, die unterschiedlicher nicht sein könnten, geschildert aus vier unterschiedlichen Perspektiven. Verbindendes Element ist, dass sie gemeinsam zur Schule gingen. Sie unterstützen sich in alltäglichen wie gröberen Problemen, die meist mit schwierigen Beziehungen oder unmöglichen One-Night-Stands zu tun haben. Anstrengend ist ihr Leben zwischen Arbeit, Dates und Besäufnissen in Nachtklubs. Amüsant und unappetitlich zugleich sind die sehr lebhaften Schilderungen von unmöglichen Typen, die in fremde Betten pinkeln, Schwiegervätern, die Studentinnen begrapschen oder Handgemengen mit Türstehern. Die Freundinnen diskutieren auch viel und heftig miteinander und sind manchmal völlig konträrer Meinung, grade auch wenn es um Feminismus geht. Der Vergleich mit „Sex and the City“ im Klappentext ist nicht nachvollziehbar, der zu „Girls“ trifft es schon eher. Jedenfalls begegnen wir einer sehr sympathischen, lustigen und ausgeflippten Clique. Nur Vorsicht beim Lesen in öffentlichen Verkehrsmitteln, nicht alle finden laut lachende Bücherleserinnen gut.

Björg Magnúsdóttir: Nicht ganz mein Typ. Aus dem Isländ. von Tina Flecken. 324 Seiten, Insel Verlag, Berlin 2016 EUR 13,40

erstmals erschienen in WeiberDiwan 02/2016

Seekrank in München

hallgrimur_collageDer auch im deutschsprachigen Raum bekannte isländische Autor Hallgrímur Helgason hat vor kurzem sein neues Buch „Seekrank in München“, das etwa zeitgleich in Isländisch und Deutsch erschien, auch in Wien vorgestellt, und zwar einmal an der Abteilung für Skandinavistik der Universität Wien und dann in der Buchhandlung Hartlieb. Zu seinen größten literarischen Erfolgen zählen „101 Reykjavík“, das auch verfilmt wurde, oder „Eine Frau für 1000 Grad“, das 2011 anlässlich der Frankfurter Buchmesse, wo Island Gastland war, sogar zuerst auf Deutsch herausgebracht wurde.

Helgason ist nicht nur Autor, sondern auch Maler, Übersetzer, Kabarettist und politischer Aktivist. In den frühen 1980er Jahren zog er für ein Jahr nach München, wo er an der Kunsthochschule studierte und eine für seine künstlerische Entwicklung wichtige Zeit verlebte, die aber dennoch viele negative Erinnerungen hinterließ. Als Helgason 2011 mit gemischten Gefühlen zum ersten Mal wieder nach München kam, entschloss er sich, ein autobiografisches Buch über seinen Münchenaufenthalt als Student zu schreiben. Was für ein Unterschied war es doch, als gefeierter Autor vor ausverkauftem Hause zu lesen und viele positive Rückmeldungen zu bekommen. Jungsein bezeichnet Helgason im Nachhinein als Krankheit. Der Zustand, als junger Künstler noch nicht zu wissen, wer man ist, zeigt sich im Falle der Romanfigur – die nur als „der junge Mann“ oder „Jung“ bezeichnet wird – in einer anhaltenden Übelkeit, die mit regelmäßigem Erbrechen einhergeht und die auf eine geheimnisvolle Krankheit schließen lässt. Wie in einem Kriminalroman legt der Autor so eine Spur durch den gesamten Text. Der junge Mann erbricht eine seltsame schwarze Masse, die sich noch dazu selbst entzündet. Medizinisch ist ihm nicht zu helfen und so steigert sich die Kotzerei endgültig ins Surrealistische, als er beginnt, den Auswurf in einem Bierglas zu sammeln, das er fortan immer unter seinem Mantel versteckt. Und so geht Jung durch seine Münchner Tage, auf die Uni, aufs Oktoberfest, durch Krise nach Krise und wundert sich über dies und das, was hier in Mitteleuropa gebräuchlich ist, nicht zuletzt über den reichlichen Bierkonsum, was nicht weiter verwundert, war Bier auf Island doch bis 1989 verboten.

hallgrimur_seekrankIn „Seekrank in München“ widmet sich Helgason erstmals einem autobiografischen Thema: „Fast alles ist wahr“, meint er, nur um gleich zu versichern, dass er sich natürlich nicht im Wohnzimmer seiner Vermieterin hinter dem Vorhang versteckt hat, um zu spionieren. Eine Klarstellung, von der er hofft, dass auch die Betroffene ihm glauben wird, die er kürzlich bei einer Lesung in München wiedergetroffen hat. Wie dem auch sei, ein skurriles Lesevergnügen!

Hallgrímur Helgason: Seekrank in München. Roman. Aus dem Isländischen von Karl-Ludwig Wetzig. 416 Seiten, Tropen – Klett-Cotta, Stuttgart 2015 EUR 20,50

Reigen ins Ungewisse

kristin_sommerreigen„Sommerreigen“ heißt der neueste Roman der Isländerin Kristín Marja Baldursdóttir auf Deutsch. Sommer ist es auf Island in diesem Buch, ein ungewöhnlich warmer noch dazu. Und ein Reigen ist es, ein Reigen von Personen, Familienmitgliedern, Intrigen, Geheimnissen. Ein mysteriöser „Fremder“ – Franzose mit nordafrikanischen Wurzeln – taucht auf. Er ist Fotograf und gibt vor, einen Bildband über besondere isländische Persönlichkeiten zu planen, in dem Gylfi, der Hoteldirektor, abgebildet werden soll. Doch eigentlich ist er einem Geheimnis auf der Spur, das mit einer Fotografie zu tun hat, die Gylfi mit einer Frau in der Pariser Metro zeigt. Je mehr über Gylfi erzählt wird, desto mehr Brüche tun sich auf. Da wird jede Menge Spannung aufgebaut. Immer wieder geht es auch um die Thematik des Fremdseins und den Umgang mit „dem Fremden“ in der kleinen, geschlossenen Gesellschaft Islands, wo ganz viel ganz schnell „fremd“ ist. Einer der stärksten Erzählstränge – inhaltlich wie literarisch – ist dabei der über Senna, die nicht-weiße Adoptivtochter Gylfis. Und dann ist der Reigen zu Ende, aber hier schließt sich kein Kreis, sondern die Leserin fällt mit allen unaufgelösten Geheimnissen und Intrigen buchstäblich in einen eiskalten isländischen Fluss. Schluss, aus, ratlos.

Kristín Marja Baldursdóttir: Sommerreigen. Roman. Aus dem Isländischen von Tina Flecken. 285 Seiten, Fischer Krüger, Frankfurt/M. 2015  EUR  19,60

erstmals erschienen in WeiberDiwan 02/2015

Island der Schriftstellerinnen

Island war 2011 als erstes skandinavisches Land Gastland der Frankfurter Buchmesse, was besonders viele isländische Neuerscheinungen, islandbezogene Veranstaltungen und Presseberichte mit sich brachte. 89 belletristische Titel erschienen zwischen Herbst 2010 und Herbst 2011 neu auf Deutsch. 25 davon stammen von Autorinnen, das sind gerade einmal 28 Prozent. Erfreulicherweise waren aber viele Autorinnen persönlich auf der Messe vertreten.

100_4136Island ist ein Land der Superlative, was damit beginnt, dass es sich um das geologisch jüngste Land der Erde handelt und damit aufhört, dass pro Kopf nur die US-Amerikaner*innen mehr Strom verbrauchen. Auch Frauen in der Politik werden immer wieder als Rekordhalter*innen dargestellt: Vigdís Finnbogadóttir war 1980 das erste gewählte weibliche Staatsoberhaupt, 1983 wurde die Frauenallianz als weltweit erste feministische Partei ins Althing gewählt und derzeit führt Jóhanna Sigurðardóttir als erste offen lesbische Premierministerin die Regierungsgeschäfte, was bedeutet, dass sie dafür verantwortlich ist, das nach dem Bankencrash 2007 schwer angeschlagene Land aus der Krise zu führen.

In der Literaturbranche rühmt man sich auch mit Weltrekorden. Gemessen an einer Gesamtbevölkerung von nur 320.000 Personen zeigt die Insel knapp südlich des Polarkreises mit jährlich 1.500 Neuerscheinungen in 42 Verlagen eine starke literarische Szene. Im Schnitt kaufen Isländer*innen acht Bücher im Jahr. Schriftsteller*innen können – so wie andere Künstler*innen – ein staatliches Gehalt beziehen, wenn sie bereits eine bestimmte Anzahl von Veröffentlichungen nachweisen. Ähnliche Voraussetzung gelten auch für eine Aufnahme in die isländische Schriftstellergewerkschaft. Nur ein Drittel der Mitglieder und ein Drittel der Autor*innen, die vom Schreiben leben können, sind allerdings Frauen, was deutlich macht, dass es auch in Island strukturelle Hindernisse für Frauen gibt, um am Buchmarkt zu reüssieren.

Bei den Übersetzungen ins Deutsche sinkt der Anteil von Autorinnen wie eingangs erwähnt noch etwas. Während die erfolgreichsten Autorinnen auf der Frankfurter Buchmesse gut vertreten sind, werden sie in der medialen Wahrnehmung oft ignoriert: Der Standard erwähnt in drei Seiten Text zur Buchmesse 17 Autor*innen namentlich, davon drei Frauen; im Kurier werden acht isländische Neuerscheinungen empfohlen, eines davon von einer Frau; in der Falterbuchbeilage: keine einzige isländische Autorin.

Erzähltraditionen

Weibliches Erzählen hat in Island eine weit zurückreichende Tradition. Die 100_4111mündliche Überlieferung von Dichtung in altnordischer Zeit folgte Formen wie Visionen, Zauberformeln, Arbeitsliedern, Klagegesängen oder Heilungsgedichten und wurde oft von Frauen weitergeben. Schriftlich erhalten ist die Liederedda, deren Texte zumindest zum Teil aus der Zeit vor dem 10. Jahrhundet stammen dürften, auch wenn sie erst später niedergeschrieben wurden. Diese Schilderungen von fantastischen mythologischen Figuren, übernatürlichen Erscheinungen und Heldentaten enthalten viele Anknüpfungspunkte an die Erfahrungswelt von Frauen der Wikingerzeit und geben Frauen in Form von Monologen auch eine Stimme. Aber mit der Christianisierung, den ersten (Kloster-)Schulen und der Verschriftlichung wurde Literatur zu einem männerdominierten Bereich.

In der modernen isländischen Literatur lassen sich trotz aller Diversität ein paar wiederkehrende Motive ausmachen: die karge, raue Natur und die imposante Landschaft mit Gletschern, eisigem Meer und heißen Quellen spielen in vielen Publikationen eine Rolle; ähnliches gilt für übernatürliche Erscheinungen, die sowohl aus den Liedern der Edda als auch den reichen Volksmärchen bekannt sind und bis heute Einfluss haben. Diese Motive zeigen sich in unterschiedlicher Ausprägung auch in den folgenden aus verschiedenen Genres ausgewählten Beispielen.

Kristín Steinsdóttir

In Kristín Steinsdóttirs Roman „Im Schatten des Vogels“ sind beide genannten Motive von Bedeutung. Es geht um die Geschichte Ljósas, die Ende des 19. Jahrhunderts auf einem einsamen Bauernhof aufwächst. Die Geschichten der alten Magd Kristbjörg sind genauso alltäglich für sie, wie der Brauch, der „Hauselfe“ etwas Milch zu bringen, um sie milde zu stimmen. Ljósa ist der Natur mit all ihren unsichtbaren Bewohner*innen stark verbunden. Als sie heranwächst, verliebt sie sich in einen jungen Mann, doch der Vater verbietet die Verbindung und schickt sie auf eine Mädchenschule nach Reykjavík. Trotzdem es immer Ljósas Wunsch gewesen war, etwas von der Welt zu sehen, und sie jetzt nähen und sogar Harmonium spielen darf, gleitet sie immer tiefer in die Depression. Nach einem Jahr kehrt sie zurück in die Herkunftsregion und heiratet einen Zimmermann. Die Spannungen zwischen ihrem Mann und ihrem Vater stürzen sie in innere Konflikte, für die ihr aber nach beinahe jährlichen Schwangerschaften und Geburten bald keine Kraft mehr bleibt. Lange Zeit wirkt sie einfach exzentrisch und widerspenstig, doch mit den Jahren manifestiert sich eine manisch-depressive Störung, für die sie keine adäquate Behandlung bekommt. Kristín Steinsdóttir schrieb diesen Roman in Anlehnung an das Schicksal ihrer Großmutter; um Milieu und Umstände des bäuerlichen Lebens im 19. Jahrhundert realistisch darstellen zu können, hat die für ihre Kinderbücher bereits preisgekrönte Autorin viele Jahre lang recherchiert. Die Figur der Ljósa ist mit viel Einfühlungsvermögen und Sympathie dargestellt; durch die Erzählung in der ersten Person sehen wir die Welt durch ihre Augen – so auch die damals weit verbreitete Methode, psychisch kranke Personen in eine „Narrenkiste“ einzusperren. Eine grausame Methode, doch, wie die Autorin sagt, ebenso eine „Maßnahme der Verzweiflung“ eines völlig überforderten Umfeldes.

Kristín Steinsdóttir: Im Schatten des Vogels. Roman. Übersetzt von Anika Lüders. 252 Seiten, C.H.Beck, München 2011      EUR 20,60

Yrsa Sigurðardóttir

Auch Yrsa Sigurðardóttir begann ihre Karriere als Kinderbuchautorin, wechselte dann aber ins Krimigenre, in dem sie auch im Ausland bekannt wurde. In ihrem neuesten Thriller „Geisterfjord“ kommt es in einem einsamen Fjord zu gespenstischen Begegnungen, die einer schon mal schlaflose Nächte bescheren können. Spurlos verschwundene Kinder sind als Krimithema schon gruselig genug, aber wenn sie dann auch noch als Geister wiederkehren! Die Verbindung außergewöhnlicher Umstände (völlige Isolation von der modernen Umwelt) mit psychischem Druck lassen die Grenzen zwischen materieller Wirklichkeit und Einbildung verschwimmen – so hofft die Leserin mit den Protagonist*innen, die sich wünschen, das was sie erleben seien nur Halluzinationen.

Yrsa Sigurðardóttir: Geisterfjord. Thriller. Übersetzt von Tina Flecken. 358 Seiten, Fischer Taschenbuch, Frankfurt/Main 2011        EUR 9,30

Steinunn Sigurðardóttir

Ganz ohne Übersinnliches kommt hingegen Steinunn Sigurðardóttir in „Der gute Liebhaber“ aus. In sehr nüchternem, klaren Stil schreibt sie eine anfangs märchenhaft anmutende Geschichte von Karl, der, nachdem er in den USA ein erfolgreicher Geschäftsmann geworden ist, nach Island kommt, um seine Jugendliebe zu entführen – was ihm dank einer Reihe ziemlich unwahrscheinlicher Zufälle auch gelingt. Ein Leben lang hatte er sich nach Una verzehrt; keine seiner zahlreichen Geliebten, fast alle äußerlich perfekt, konnten ihn über seinen Verlust trösten. Er hält sich für einen „guten Liebhaber“, der eine Frau perfekt befriedigen kann. Er selbst „verzichtet“ dabei auf den Orgasmus. Doch gerade als sich das Märchen mit Una zu erfüllen scheint, erinnert Karl sich an Doreen, eine der weniger perfekten Geliebten, die hinter seine Fassade blickte, die ihn mit seiner Masche des perfekten Liebhabers nicht so einfach davon kommen ließ, und ihn dadurch gleichzeitig abstieß und anzog.

Steinunn Sigurðardóttir: Der gute Liebhaber. Roman. Übersetzt von Coletta Bürling. 223 Seiten, Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 2011            EUR 18,50

Kristín Marja Baldursdóttir

Eine Autorin, die von sich sagt: „Gleichberechtigung war meine Vision als ich mit dem Schreiben begann“, ist Kristín Marja Baldursdóttir. Im deutschsprachigen Raum wurde sie 2001 mit „Möwengelächter“ bekannt, das später auch verfilmt wurde. Ihre älteren Romane sind gerade als Taschenbücher neu aufgelegt worden. Neu erschienen ist der Roman „Sterneneis“, der eine 14-Jährige und eine Frau in den 50ern in ein einsames Ferienhaus ohne Strom und damit ohne Handy, Internet und Fernsehen verschlägt, wo sie ein ganzes Wochenende zusammen verbringen. Sie finden einen Draht zueinander, als die Ältere beginnt, der Jüngeren Geschichten aus ihrem Leben zu erzählen.

Kristín Marja Baldursdóttir: Sterneneis. Roman. Übersetzt von Ursula Giger. 240 Seiten, Krüger Verlag, 2011   EUR 17,50

Es bleibt zu hoffen, dass das Interesse an isländischer Literatur auch nach der Buchmesse weiter anhält. Ob historisch oder gegenwärtig, ob übersinnlich oder ganz ohne Elfen und Trolle. Die isländische Literatur hat viel zu bieten. Kein Wunder, dass die Isländer*innen so gerne lesen.

erstmals erschienen in WeiberDiwan 02/2011