Estland – längst EU-Mitglied, beliebter werdendes Reiseziel und doch auch unbeschriebenes Blatt, was unser Wissen über seine Geschichte angeht. Diesbezüglich bringt Sofi Oksanen, Tochter einer Estin und eines Finnen, einige Klarheit – weniger vielleicht was das Faktische betrifft, dafür umso eindrücklicher was Emotionen, Gesellschaftsstrukturen und politisches Klima anbelangt. Wechselnde Regime – Unabhängigkeit, deutsche und russische Besatzung, Eingliederung in die UdSSR, dann wieder Unabhängigkeit – prägten das 20. Jahrhundert. Was das für die Menschen hieß, v.a. wenn sie sich politisch engagierten, liest sich in diesem Roman mit. Gerade die Rollen und Positionen, die Frauen aufgezwungen bzw. zugestanden wurden, werden deutlich. In Aliide und Zara treffen Großmütter- und Enkelinnengeneration aufeinander. Beide haben die extremsten Erfahrungen ihrer Zeit gemacht – die eine gefoltert und vergewaltigt, weil sie einen Partisanen versteckte. Die andere aufgewachsen mit einer Mutter, die als Kind Folter und sibirische Lager überlebte, wird als Zwangsprostituierte in den Westen verschleppt. Dass zwischen den beiden Frauen eine verwandtschaftliche Verbindung besteht, die durch Verrat und Schuld geprägt ist, spannt den inhaltlichen Bogen. Die im Klappentext gemachte vereinfachende Feststellung: „Egal, welches politische System auch herrscht, Opfer sind immer die Frauen“, wird dem Roman – zum Glück – nicht gerecht. Die Autorin entwickelt ihre Geschichte und Charaktere differenzierter. Aliide etwa ist eine äußerst komplexe Persönlichkeit, deren Motive teilweise rätselhaft bleiben; aber gerade das macht sie auch authentisch. Ein Roman, der seine vielen Preise absolut verdient hat.
Sofi Oksanen: Fegefeuer. Roman. Übersetzt von Angela Plöger. 396 Seiten, Kiepenheuer & Witsch, Köln 2010 EUR 20,60
erstmals erschienen in WeiberDiwan 02/2010